Was wäre, wenn der Fachkräftemangel in Wahrheit kein Mangel an Menschen ist – sondern ein Mangel an Vorstellungskraft, Mut und Haltung?
In vielen Unternehmen wird über ausbleibende Bewerbungen geklagt. Doch vielleicht liegt die eigentliche Herausforderung nicht außerhalb, sondern im Inneren der Organisation. Der Steinbeis-Experte Stefan Wilke zeigt, warum es höchste Zeit ist, sich von der Fixierung auf makellose Lebensläufe zu verabschieden – und stattdessen Potenzial und Persönlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Es geht um praxisnahe Ansätze, inspirierende Beispiele und die zentrale Frage: Sind wir bereit, Verantwortung zu übernehmen?

Die Ursachen des Fachkräftemangels und Verantwortung der Unternehmen
Der Begriff „Fachkräftemangel“ klingt wie ein unveränderliches Naturgesetz – dabei ist er oft die Folge eingefahrener Denkmuster und zu enger Erwartungshaltungen. Stefan Wilke ist überzeugt: Wer klagt, sollte zunächst prüfen, ob es im eigenen Unternehmen an Offenheit, Mut oder Flexibilität mangelt. Denn viele wirksame Lösungen liegen längst auf dem Tisch – sie müssen nur umgesetzt werden.
Best Practices: Lösungen mit sofortiger Wirkung
Ein mittelständisches IT-Unternehmen aus Baden-Württemberg führte Soft-Skill-basierte Potenzialanalysen ein. Das Ergebnis: Die Fluktuation sank um 30 %, die Besetzungsquote stieg um 25 %.
Ein Pflegebetrieb in Nordrhein-Westfalen etablierte gezielte Teilzeitmodelle für Alleinerziehende – mit dem Effekt, dass innerhalb eines Jahres 18 % mehr Bewerbungen eingingen.
Ein bayerischer Handwerksbetrieb gewann durch gezielte Social-Media-Kampagnen und Kooperationen mit lokalen Schulen drei zusätzliche Auszubildende – trotz rückläufiger Bewerberzahlen.
Ein Metallbaubetrieb in Sachsen setzte auf flexible Arbeitszeiten für ältere Gesellen und profitierte von persönlichen Empfehlungen und konstantem Nachwuchs aus dem eigenen Umfeld.
Strategien nach Unternehmensgröße und Branche
Nicht jede Maßnahme passt für jedes Unternehmen. Entscheidend ist der Kontext. So verfügen Großunternehmen und Konzerne über größere finanzielle und strukturelle Ressourcen – gleichzeitig sind Entscheidungsprozesse oft komplexer. Ihre Stärken liegen in etablierten Programmen für Personalentwicklung, Diversity, Karrierepfade und Employer Branding. Der notwendige Kulturwandel – hin zu mehr Agilität, Dialog und Mitarbeiterzentrierung – erfordert jedoch aktives Gestalten. Wichtige Hebel sind hier der Einsatz innovativer HR-Technologien, systematische Führungskräfteentwicklung, internationale Rekrutierung, interne Talentprogramme sowie eine strukturierte Nachfolgeplanung.
Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) hingegen verfügen über weniger Ressourcen, dafür aber über kürzere Entscheidungswege und größere Nähe zur Belegschaft. Flache Hierarchien und eine offene Feedbackkultur sind wesentliche Vorteile. Um ihre Sichtbarkeit und Attraktivität zu erhöhen, sollten KMU verstärkt Kooperationen mit Berufsschulen, Hochschulen und lokalen Jobcentern eingehen – und dadurch gezielt Nachwuchs gewinnen.
Auch branchenspezifisch zeigen sich unterschiedliche Ansätze: In Industrie und Technik – stark betroffen vom technologischen Wandel und der alternden Fachkräftebasis – empfiehlt sich der Fokus auf duale Ausbildung, robotiknahe Kompetenzen und Partnerschaften mit Fachhochschulen.
In Pflege, Gesundheit und Sozialwesen sind Soft Skills wie Empathie, Zuverlässigkeit und Kommunikationsstärke besonders gefragt. Hier bieten lebensphasenorientierte Dienstpläne, Jobsharing-Modelle und die gezielte Integration internationaler Fachkräfte nachhaltige Lösungen.
Die IT- und Digitalwirtschaft steht im globalen Wettbewerb um Talente. Erfolgsentscheidend sind hier glaubwürdiges Employer Branding, sinnstiftende Projekte („Purpose“) sowie flexible Arbeitsmodelle wie Hybrid- oder Remote-Work.
Das Handwerk wiederum kämpft mit Nachwuchsmangel, Imageproblemen und geringer Sichtbarkeit. Erfolgversprechend sind hier frühe Berufsorientierung an Schulen, authentische Social-Media-Kommunikation, Angebote der Handwerkskammern sowie regionale Ausbildungsinitiativen. Stärken dieser Branche sind praxisnahe Ausbildung, familiäre Betriebskultur sowie die gezielte Integration von Frauen und Quereinsteigern.
Typische Fehler
Stefan Wilke ist überzeugt: „Die meisten Talente wechseln nicht zur Konkurrenz – sie verlassen Unternehmen, weil sie dort keine Zukunft für sich sehen.“
Typische Versäumnisse sind:
- Bei der Personalgewinnung: starre Lebenslauf-Fixierung und unpersönliche, anonyme Prozesse
- Bei der Mitarbeiterbindung: fehlende Entwicklungsperspektiven und mangelnde Sinnstiftung
- In der Führung: Kontrollkultur statt Vertrauen und kein zeitgemäßes Führungsverständnis
Moderne Personalgewinnung: persönlich, flexibel, sinnstiftend
Was heute wirklich wirkt:
- Glaubwürdiges, authentisches Employer Branding
- Der Fokus auf Persönlichkeit statt ausschließlich auf Qualifikationen
- Bewerbungsprozesse, die den Dialog fördern statt abschrecken
- Integration statt Ausgrenzung
- Flexible Arbeitsmodelle, abgestimmt auf unterschiedliche Lebensphasen
- Digitale Tools zur frühzeitigen Potenzialerkennung
Was nicht mehr funktioniert:
- Attraktive Gehälter ohne Entwicklungsperspektive
- Hochglanzbroschüren ohne Substanz
- Starre Karrierestufen ohne individuelle Entfaltungsmöglichkeiten
- „Benefits“ ohne echten Mehrwert
- Bewerbungsprozesse ohne persönliche Kommunikation
- Standortvorteile ohne Flexibilität
- Imagekampagnen ohne glaubwürdige Einblicke in den Arbeitsalltag
Potenziale statt Lebensläufe
Nicht der perfekte Lebenslauf entscheidet – sondern die Bereitschaft, sich aktiv einzubringen. Beobachtbare Soft Skills sind häufig aussagekräftiger als formale Qualifikationen. Zu den zentralen Kompetenzen zählen Lernbereitschaft, Teamfähigkeit, Kommunikationsstärke, Selbstreflexion, Resilienz, Eigenverantwortung, digitale Kompetenz, Kundenorientierung, Problemlösungsfähigkeit und – nicht zuletzt – Kreativität.
Potenzialerkennung kann mit einer einfachen, aber aufschlussreichen Frage beginnen: „Was haben Sie sich zuletzt selbst beigebracht?“
Personalarbeit als Basis für Unternehmenserfolg
Gute Personalarbeit ist kein Kostenfaktor – sie ist das Fundament jeder erfolgreichen Organisation von morgen. Ihre Wirkung zeigt sich unter anderem in:
- strategischer Verankerung von Personalthemen
- langfristiger Zukunftsorientierung
- konsequenter Mitarbeiterzentrierung inklusiven Ansätzen
- verbindlichen Weiterbildungsstrategien
- transparenter Kommunikation und Partizipation
- nachhaltiger Führungskultur
- sinnstiftender Arbeit
- Messbarkeit, Evaluation und Wirkungskontrolle
Moderne Personalgewinnung: zehn Fragen für Führungskräfte
Folgende Reflexionsfragen helfen dabei, bestehende Strukturen zu hinterfragen und konkrete Veränderungen anzustoßen:
- Haben wir klare Kriterien zur Erkennung von Soft Skills im Bewerbungsprozess?
- Ist unsere Führungskultur auf Förderung statt Kontrolle ausgerichtet?
- Bieten wir flexible Arbeitsmodelle – auch für ältere Mitarbeitende oder Alleinerziehende?
- Nutzen wir aktiv Kooperationen mit Schulen, Jobcentern oder regionalen Initiativen?
- Ist Inklusion ein gelebter Bestandteil unserer Unternehmenskultur?
- Gestalten wir den Bewerbungsprozess dialogorientiert und barrierefrei?
- Dürfen unsere Mitarbeitenden mitgestalten – oder nur ausführen?
- Erfassen wir Weiterbildungsbedarfe systematisch und leiten daraus Maßnahmen ab?
- Ist die Personalentwicklung strategisch im Unternehmen verankert?
- Bewerten wir neue Mitarbeitende nach ihrem Potenzial – oder nur nach ihrem Lebenslauf?
Veränderung beginnt jetzt
Fachkräftemangel ist kein Schicksal – sondern eine Führungsfrage. Wer Verantwortung übernimmt, neue Wege geht und Potenziale erkennt, gestaltet nicht nur eine moderne Personalarbeit, sondern stärkt aktiv die Zukunftsfähigkeit seines Unternehmens. Denn zukunftsorientierte Personalpolitik ist kein Luxus – sie ist überlebenswichtig. Es braucht nicht den perfekten Moment. Es braucht den ersten Schritt.
Soft Skills erkennen: Antwortmuster und deren Bedeutung
- „Ich kann gut zuhören – meine Freunde erzählen mir alles.“ → Empathie, Vertrauenswürdigkeit, soziale Intelligenz
- „Ich bin jemand, der einfach macht, statt lange zu reden.“ → Umsetzungsstärke, Pragmatismus, Eigenverantwortung
- „Ich liebe es, Dinge zu strukturieren und Ordnung zu schaffen.“ → Organisationsfähigkeit, Systematik, Prozessbewusstsein
- „Ich bin immer die Person, die Konflikte im Team klärt.“ → Moderationskompetenz, Kommunikationsstärke, Leadership
- „Ich habe mir selbst Programmieren / eine Sprache beigebracht.“ → Selbstlernkompetenz, intrinsische Motivation, Tech- oder Sprachaffinität
- „Ich mag es, wenn viel los ist und ich improvisieren muss.“ → Stressresistenz, Spontaneität, Einsatzfreude
- „Ich habe ein Händchen für Menschen – ich erkenne schnell, wie jemand tickt.“ → Menschenkenntnis, soziale Sensibilität, Recruiting- oder Kundenorientierung
- „Ich finde schnell kreative Lösungen, wenn andere nicht weiterwissen.“ → Kreativität, Problemlösungsfähigkeit, Innovationsfreude
- „Ich arbeite lieber allein – dann komme ich besser voran.“ → Eigenständigkeit, Fokus, eventuell introvertierter Arbeitsstil
- „Ich habe schon oft Verantwortung übernommen, auch wenn’s unbequem war.“ → Führungsreife, Belastbarkeit, Gewissenhaftigkeit