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„Die traditionellen ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen werden weiterhin eine große Rolle spielen“

Im Gespräch mit dem Ulmer Steinbeis-Experten Professor Dr.-Ing. Thomas Schmitz

Die aktuellen tiefgreifenden Entwicklungen machen eine Transformation der Automobilbranche notwendig, nicht zuletzt auch der Zulieferer. Wie sie diesen Change aktiv angehen können und welche Rolle der Transfer aus der Wissenschaft in die Praxis dabei spielt, hat die TRANSFER den Steinbeis-Unternehmer und Prodekan der Fakultät Maschinenbau der Technischen Hochschule Ulm, Professor Dr.-Ing. Thomas Schmitz, gefragt. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung in der Industrie einerseits und in Lehre und Forschung andererseits kennt er die Branche aus unterschiedlichen Perspektiven.

Herr Professor Schmitz, die Automobilindustrie befindet sich im großen Umbruch: Digitalisierung, Klimaneutralität, autonomes Fahren – das sind nur einige Faktoren, die die enormen Veränderungen in der Branche bestimmen. Was bedeuten diese Entwicklungen speziell für die zahlreichen KMU in der Automobilbranche?

Die Lieferketten in der Automobilindustrie sind hierarchisch strukturiert. Letztendlich bedeutet das, dass die sich aus dem Umbruch ergebenden neuen Anforderungen auch die Zulieferer erreicht haben. Viele der großen Tier-1-Zulieferer haben bereits vor Jahren die Weichen entsprechend gestellt, umstrukturiert und neue Geschäftsfelder erschlossen. Ich habe den Eindruck, dass bei vielen Tier-2- und Tier-3-Zulieferern dieses Umdenken mit einer gewissen Zeitverzögerung eingesetzt hat und die entsprechenden Maßnahmen erst jetzt eingeleitet werden. Besonders schwierig ist es natürlich für die Unternehmen, deren Produkte bisher zum größten Teil in Verbrennungsmotoren zum Einsatz kamen.

Was können Unternehmen tun, um diesen Herausforderungen gerecht zu werden?

Die notwendigen Maßnahmen betreffen gleichermaßen Produkte, Personal, Kompetenzen und Geschäftsprozesse. Wichtig ist eine realistische Bestandsaufnahme der unternehmensspezifischen Stärken, Schwächen, Möglichkeiten und Risiken, um neue profitable Geschäftsfelder erschließen zu können. Die Strategie, mit bestehenden Fertigungsprozessen in einen gesättigten Markt einzusteigen, ist nicht erfolgversprechend. So ist beispielsweise der Versuch der Hersteller von Aluminiumguss-Motorgehäusen in das Geschäftsfeld der Aluminium-Fahrwerkskomponenten einzusteigen, gescheitert. Innovationen sind daher zwingend erforderlich.

Wie können Zulieferer nun erfolgreich neue Geschäftsbeziehungen aufbauen? Die wichtigste Aufgabe für einen Komponenten- beziehungsweise Systemhersteller ist es aus meiner Sicht, beim potenziellen neuen Kunden Interesse und Neugier zu wecken. Geschäftsbeziehungen sind meist langfristig ausgelegt und die zugrundeliegenden Strukturen alles andere als flexibel. Mit einem neuen Zulieferer geht jeder Hersteller ein großes Risiko ein. In meiner Zeit als globaler Manager im Bereich Fahrwerkentwicklung bei einem großen Automobilkonzern wurde ich kontinuierlich mit Anfragen neuer Zulieferer konfrontiert. Schon die erste Frage, die ich den Unternehmensvertretern stellte, konnte nur selten konkret beantwortet werden: Weshalb sollte gerade ihr Unternehmen für zukünftige Anfragen berücksichtigt werden? Da der Aufbau einer neuen Geschäftsbeziehung für den OEM ein großes Risiko und zusätzlichen Aufwand darstellt, ist es für den langfristigen Erfolg des Zulieferers ausschlaggebend, Begeisterung beim Kunden durch Alleinstellungsmerkmale zu erwecken. Dies gelingt durch Differenzierung von den Wettbewerbern durch Innovationen, effektive Fertigungsprozesse sowie robuste kundenorientierte Geschäftsprozesse. Auch die Bedeutung einer präzisen Kommunikation mit dem Kunden in englischer oder nativer Sprache darf nicht unterschätzt werden.

Mit welchen Lösungen können Sie Ihre Kunden in der aktuellen Veränderungsphase unterstützen?

Mit der Kenntnis der Entscheidungsprozesse in der globalen Automobilindustrie unterstütze ich meine Kunden bei der Ausrichtung ihres Produktportfolios entsprechend der Anforderungen der Kunden. Darüber hinaus berate ich internationale Zulieferunternehmen in Bezug auf ihre Kommunikationsstrategie einem neuen Kunden gegenüber: Produkte, Innovationen, Prozesse und Fähigkeiten müssen präzise und glaubwürdig präsentiert werden. Ziel ist es, eine starke positive Botschaft zu vermitteln und damit das Interesse des Kunden zu wecken die Zusammenarbeit zu intensivieren.

Neben der strategischen Beratung biete ich meinen Kunden technologische Dienstleistungen: So stellt die Konzeption und Auslegung moderner Fahrwerksysteme einen Schwerpunkt meines Steinbeis-Transferzentrums dar. Leichtbaulösungen können in einem ersten Schritt kosteneffizient durch Systemoptimierung, in einem zweiten durch die Integration neuer Materialien, beispielsweise Glasfaserverbundwerkstoffe, realisiert werden.

Darüber hinaus werden neue Mobilitätsansätze thematisiert. Mit universell einsetzbaren intelligenten Transportfahrzeugkonzepten können neue Anwendungsbereiche erschlossen werden. Neuartige Fahrwerkskonzepte, sogenannte individuelle Corner Module mit Steer-by-Wire-Lenkung, erlauben flinke Bewegungen auf engstem Raum.

Ein weiterer Arbeitsbereich besteht in der subjektiven Beurteilung der Fahrdynamik in Kombination mit der detaillierten Vermessung aller relevanten Bewegungsgrößen eines Fahrzeuges. Ziel ist hier die Korrelation von subjektiver Wahrnehmung mit objektiven Kennwerten. Mit der zunehmenden Verbreitung von automatisierten Fahrfunktionen haben sich auch die Kundenanforderungen an die Fahrdynamik verändert. Diese neuen Anforderungen sollten mit objektiven Kenngrößen beschrieben werden, um daraus neue objektive Zielvorgaben zu definieren.

Zusammen mit einem Partnerunternehmen haben wir das Ziel nachhaltige Mobilität zu demokratisieren. Durch die entwickelten elektrischen Umbausysteme können Fahrzeuge wie Fahrräder und Roller einfach, schnell und kostengünstig in elektrische umgewandelt werden. Darüber hinaus können wir Unternehmen durch effektive Schulungen zu neuartigen Themen helfen, ihre Mitarbeiter fit für den Wandel zu machen. Die kontinuierliche Weiterentwicklung der Kompetenzen der Mitarbeiter wird in Zukunft eine viel wichtigere Rolle spielen als bisher, da der Fachkräftemangel in den nächsten Jahren nochmals stark zunehmen wird.

Welche technologischen Entwicklungen werden Ihrer Meinung nach die Zukunft der Automobilbranche bestimmen?

Die Themengebiete sind gesetzt: Kontinuierliche Steigerung der Reichweite und Senkung der Ladezeiten von batterieelektrischen Fahrzeugen, Ausbau der Ladeinfrastruktur, die Weiterentwicklung automatisierter Fahrfunktionen sowie die Vernetzung aller an der Mobilität beteiligten Bereiche werden sicherlich einen großen Teil unserer Entwicklungsaktivitäten bestimmen. Der Aspekt der Nachhaltigkeit wird immer wichtiger und nur Zulieferer, die nachhaltige Entwicklungs- und Produktionsprozesse aufbauen, werden langfristig bestehen. Auch der vermehrte Einsatz von Rezyklaten ist Teil des Wandels.

Interessant wird sein, wie sich das Kleinwagensegment in Europa entwickelt. Durch den hohen Kostenanteil der Batterie hat sich der Preis für batterieelektrische Kleinwagen so stark erhöht, dass sich einkommensschwache Haushalte kein derartiges Produkt mehr leisten können. Es kommt erschwerend hinzu, dass sich einige traditionelle Hersteller nur noch auf Marktsegmente konzen­trieren, in denen deutlich höhere Profite zu erzielen sind.

Aus meiner Sicht ist auch der derzeit praktizierte Ansatz zu korrigieren, dass die Politik der Industrie die zu entwickelnden Technologien diktiert. Rein funktionale Zielvorgaben sind hier der bessere Weg, um optimale technische Lösungen zu finden. In diesem Zusammenhang wird es spannend sein zu beobachten, welche Rolle synthetische Kraftstoffe und Brennstoffzellenantriebe in Zukunft spielen werden.

Was bedeutet das für den Wissens- und Technologietransfer in diesem Bereich?

Auch hier erfolgt ein Wandel: So war der Studiengang Fahrzeugtechnik an der Technischen Hochschule Ulm in der Vergangenheit primär als eine Anwendung des Maschinenbaus ausgelegt. Das hat sich inzwischen geändert und Kompetenzen aus den Bereichen Elektrotechnik, Regelungstechnik und Informatik haben eine deutlich größere Bedeutung erlangt.

Durch die ständige Anpassung der Lehrinhalte an die aktuellen Anforderungen der Industrie leisten die Hochschulen ihren Beitrag für die Ausbildung der zukünftigen Ingenieursgenerationen. Mit den Steinbeis-Unternehmen sind wir durch Schulungen, Beratung und Mitwirkung in Projekten in der Lage, aktuelles Wissen in die Unternehmen zu transferieren. Aufräumen möchte ich mit der Einschätzung, dass zukünftige Fahrzeuge nur noch aus „Bits und Bytes“ bestehen. Auch der intelligente und vernetzte Pkw der Zukunft wird sicherlich nach wie vor ein Gewicht von ein bis zwei Tonnen aufweisen, woraus man unschwer ableiten kann, dass die traditionellen ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen weiterhin eine große Rolle spielen werden.


Die Lieferanten werden je nach Abstand zum Automobilhersteller als Tier-1-, Tier-2-Zulieferer usw. bezeichnet. Zulieferer, die direkt an den Hersteller liefern, werden Tier-1-Zulieferer genannt. Diese arbeiten in der Regel mit weiteren Unterlieferanten zusammen, die entsprechend ihrer Stellung in der Wertschöpfungskette als Tier-2, Tier-3 etc. kategorisiert werden.

Kontakt

Prof. Dr.-Ing. Thomas Schmitz (Interviewpartner)
Steinbeis-Unternehmer
Steinbeis-Transferzentrum Fahrwerktechnik, Fahrdynamik und Gesamtfahrzeugentwicklung (Ulm)

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