Suffizienz oder Effizienz: die Wahrheit liegt dazwischen

Im Gespräch mit Professor Dr.-Ing. Stefan Tenbohlen, Steinbeis-Unternehmer am Steinbeis-Transferzentrum Hochspannungstechnik und Energieübertragung

Energie ist lebenswichtig. Professor Dr.-Ing. Stefan Tenbohlen, Steinbeis-Unternehmer am Steinbeis-Transferzentrum Hochspannungstechnik und Energieübertragung und Leiter des gleichnamigen Instituts an der Universität Stuttgart, kennt sich mit dieser Tatsache gut aus: Seit bald drei Jahrzehnten ist er im Energiebereich tätig und unterstützt unter anderem die Netzbetreiber darin die Energieversorgung zuverlässig zu gestalten. Die TRANSFER hat mit ihm über konkrete Projekte und die Zukunft des Energiebereiches gesprochen.

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Herr Professor Tenbohlen, Sie beschäftigen sich schon fast 30 Jahre mit einem Thema, das gerade hochaktuell ist: Energie. Was waren für Sie die wichtigsten Meilensteine der Entwicklungen im Energiebereich in dieser Zeit?

In meinen Anfangsjahren stand das Thema Deregulierung und Unbundling ganz hoch auf der Prioritätenliste. Die Politik strebte danach, die damaligen Monopolstrukturen in der Energieversorgung in den freien Markt zu überführen: Ein Unternehmen sollte nicht mehr von der Erzeugung über die Übertragung bis hin zu Verteilung und Stromverkauf für alles zuständig sein, der Kunde sollte sich seinen Stromanbieter selbstständig aussuchen können. Es ging um Deregulierung des Energiemarktes, indem die großen Unternehmen in mehrere kleinere unterteilt wurden. Das war ein erster wichtiger Schritt. Und dann kam der Ausbau der erneuerbaren Energien, der Anfang der 2000er-Jahre durch die entsprechende Technologieentwicklung angestoßen wurde. Ab 2009 wurden damit etwa zehn Gigawatt pro Jahr installiert. In den letzten Jahren kam eine Phase, in der es mit fünf bis sechs Gigawatt pro Jahr ruhiger lief. Es ist natürlich schön zu hören, dass die Politik jetzt anstrebt ab 2025 bis zu 30 Gigawatt pro Jahr zu installieren: Also das Dreifache von dem, was wir zu Hochzeiten hatten, und das Fünffache dessen, was wir im Moment schaffen. Es bleibt spannend, ob das wirklich gelingen wird.

Zu den Dienstleistungen Ihres Steinbeis-Unternehmens gehören unter anderem Schadens- und Ausfallanalysen des elektrischen Netzes. Wie gehen Sie dabei vor?

Bevor es zu einer solchen Kundenanfrage bei mir kommt, haben sich schon Experten der beteiligten Unternehmen mit der Schadensanalyse beschäftigt. Wenn sie dann zu mir kommen, bedeutet das, dass das Problem meistens etwas tiefer liegt. Als Erstes lese ich mich in den Fall ein, denn es sind bereits verschiedene Messungen und Untersuchungen vorgenommen worden. Dann muss ich abschätzen, ob das so sein kann. Passen alle Werte und Ergebnisse zusammen? Es kommt nicht selten vor, dass ich zuerst noch einmal nachrechnen muss. Wenn es zum Beispiel um das Versagen eines Isolationssystems geht, was häufig das Hauptproblem der Hochspannungstechnik ist, muss eine elektrische Feldberechnung gemacht werden, um die Beanspruchung festzustellen. Danach prüfe ich, ob die Festigkeit der Isolierung adäquat gewählt worden ist. Es gibt aber auch Fälle, wo das Problem so tief liegt, dass ich mir Hilfe holen muss. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Ich habe aktuell einen Fall von Windenergieanlagen, bei denen Transformatoren ausfallen, die mit einem speziellen Öl gefüllt sind und spezifische betriebliche Randbedingungen haben. Es gibt weltweit nicht viele Experten, die genau dieses spezielle Problemfeld kennen. Da ich aber schon lange in dem Bereich tätig bin, habe ich viele Kontakte, die unterstützen können.

Wie können die daraus gewonnenen Erkenntnisse helfen, die Risiken bei der Energieversorgung zu beherrschen oder gar zu minimieren?

Analysiert man einen einzelnen Schaden, lernt man, wie man das Design oder den Betrieb anpassen muss (Bottom-up- Ansatz). Daher ist es wichtig, Ausfalldaten zu sammeln und sie in ihrer Gesamtheit zu analysieren. Ich bin Vorsitzender einer internationalen Arbeitsgruppe, die Schäden von Leistungstransformatoren weltweit untersucht. Wir sammeln Daten von Australien über China, Indien, Südafrika, Europa bis Südamerika, um zu sehen, was die Gründe für Ausfälle von Transformatoren sind. Bei dieser Fehleranalyse gehen wir nach dem Top-down-Ansatz vor, indem wir aus den Erfahrungen mit der gesamten Population Rückschlüsse auf einzelne Problemfelder ziehen und entsprechende Verbesserungsmaßnahmen vorschlagen. In dieser Arbeitsgruppe wird auch ein Bericht verfasst, der beschreibt, wie die Zuverlässigkeit von solchen Komponenten erhöht werden kann. Hier geht es darum, den Ausfall zu vermeiden.

Aber auch neue Betriebsführungskonzepte haben an Bedeutung gewonnen. Gerade jetzt, in Zeiten von Energieknappheit oder besser gesagt lokaler Netzengpässe, ist dies ein wichtiger Punkt, weil Betriebsmittel auch überlastet werden können. Wir entwickeln zum Beispiel Algorithmen, wie hoch man einen Transformator in Abhängigkeit der Umgebungsbedingungen überlasten kann, wenn zum Beispiel ein Kraftwerk im Süden ausgefallen ist und dementsprechend mehr Strom aus dem Norden übertragen werden muss. Das hilft dem Netzbetreiber, die Versorgung zuverlässiger zu gestalten.

Es ist ein Zusammenspiel von vielen Akteuren: Netzbetreiber, Politik, Wissenschaft. Es gibt entsprechende Forschungsprogramme, um solche Lösungen zu entwickeln. Diese müssen dann aber auch praktisch umgesetzt werden. Und gerade in einer Branche, die nicht den kurzzeitigen, sondern langfristigen Fokus hat, muss man auch Überzeugungsarbeit leisten, damit solche Tools im täglichen Betrieb eingesetzt werden.

Wir befinden uns aktuell in einer Energiekrise, umso wichtiger der Blick in die Zukunft: Welche Faktoren werden unsere „Energiezukunft“ Ihrer Meinung nach bestimmen, welche neuen Risiken kommen auf uns zu und wie können wir diesen wirksam entgegenwirken?

Das ist nicht nur eine technische, sondern eine fast philosophische Fragestellung. Ich nutze manchmal einen etwas frappierend klingenden Vergleich, der aber, glaube ich, nicht ganz falsch ist: Nehmen wir eine Petrischale, in der sich ein Bakterienansatz gebildet hat. Wenn ich diesen Bakterien Nährlösung gebe, wächst der Bakterienstamm exponentiell. In dem Moment, in dem die Nährlösung wegfällt, bricht er zusammen. Letztendlich ist unsere Menschheit nichts anderes: Die Petrischale ist die Erde und die Nährlösung für unsere Entwicklung waren beziehungsweise sind die fossilen Energieträger. Solange diese im Spiel sind, wird die Exponentialfunktion unserer Entwicklung immer steiler. Jetzt muss man, wenn man bei dem Bild bleibt, sich fragen: Was passiert, wenn diese Nährlösung in Form fossiler Energien nicht mehr da ist? Einerseits weil sie verbraucht ist, aber andererseits auch, weil durch den Verbrauch andere Entwicklungen wie zum Beispiel der Klimawandel ausgelöst werden, durch die ein Weiterleben auf der Erde in Frage gestellt wird. Mögliche Lösungswege sind sicherlich effizienzsteigernde Maßnahmen und der verstärkte Ausbau der erneuerbaren Energien. Aber auf der anderen Seite muss jeder für sich überlegen, muss ich all die Dinge tun und konsumieren, nur weil ich es kann? Muss ich dreimal im Jahr in den Urlaub fliegen oder sollte ich vielleicht auch Ressourcen sparen? Also Suffizienz anstatt Effizienz. Sicherlich liegt die Wahrheit dazwischen. Aber ich glaube, dass das nicht nur durch die Verantwortung des Einzelnen gelingen wird. Auch die Gesetzgebung muss nachziehen, so unbeliebt dieses Feld für die Politik auch sein mag.

Kontakt

Prof. Dr.-Ing. Stefan Tenbohlen (Interviewpartner)
Steinbeis-Unternehmer
Steinbeis-Transferzentrum Hochspannungstechnik und Energieübertragung (Ostfildern)

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