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Von der Ungewissheit über die Wahrscheinlichkeit zum Dataismus

Ein Exposé über drei Generationen von Risikomanagement

Seitdem das Denken und Handeln des Menschen sowohl als Individuum als auch als Kollektiv überliefert ist, geht es um „Wissen“ und „Unwissen“ über die Zukunft. Das Wort „Ungewissheit“ ist zum Ankerbegriff für die Definition des Sachverhalts und des Begriffs „Risiko“ in ISO-Normen und darüber hinaus geworden. Zahlreiche weitere Definitionen koexistieren und komplementieren einander. Dr. Peter Meier, Steinbeis-Unternehmer am Steinbeis-Transferzentrum Risikomanagement, und die Unternehmensberaterin Munok Kwon nehmen für die TRANSFER einen Rück- und Ausblick auf das Risikomanagement vor und kommen persönlich zu einem sehr kritischen Urteil.

Peter Meier verwendet in seiner Tätigkeit eine wert- und statistikbezogene Definition von Risiko als „zukünftige, ungewisse und negative Wertposition“. Mit dieser Definition ist Risiko messbar und handhabbar wie andere Werte auch. Der Risikomanager mit seiner differenzierten Perspektive managt das Risiko nach der Norm DIN ISO 31000:2018 Risikomanagement-Leitlinien. Der Kaufmann dagegen versteht unter Risiko aus seiner integrierten Perspektive den Dualismus im „Wagnis“ beim Handel, begleitet von unvermeidbarer Spekulation über die Zukunft mit entsprechender Wirkung auf seinen Gewinn.

Risikomanagement im Rückblick

Die Aufklärung brachte ab dem 18. Jahrhundert mit ihren Konzepten der logischen und mathematischen Statistik einen revolutionären Wandel in Europa. Die Normalverteilung nach C. F. Gauß wurde zu einem wichtigen Mittel der Risikobewertung und des -managements. In China hingegen wurde bereits im 5. Jahrhundert vor Christus die logische und mathematische Perspektive auf die Zukunft als Wahrscheinlichkeit von Szenarien verwendet. Der Philosoph und Soziologe Konfuzius und sein Zeitgenosse, der Militärstratege General Sunzi, legten den Grundgedanken der Berechenbarkeit der Zukunft zu einer Zeit, als in Europa natürliche Phänomene noch lange als übernatürliche, göttliche Zeichen gedeutet wurden.

Zurück in die Gegenwart: Vorhersagen zukünftiger Zustände basierend auf numerischen Simulationen mit Monte-Carlo-Zufallszahlen beherrschen aktuell noch immer das statistische Risikoverständnis. Die entscheidenden Fragen dabei sind, welche und wie viele Werte einer Gefährdung oder einer Begünstigung unterliegen. 2007 analysierte der deutsche Philosoph Ludger Heidbrink umfassend die Übernahme von Verantwortung durch den Menschen für Entscheidungen und Handlungen unter eben dieser Ungewissheit als ein sowohl aktuelles als auch zeitloses, aber sich änderndes Kulturmerkmal. Damit ist auch die Delegation von Verantwortung in einer Organisation sowie das klassische Abwägen von Vertrauen und Kontrolle in Beziehungen verbunden. Dieses Problem kumuliert in der gegenwärtigen Mehrfachkrise, in der systematisch nach Gewissheit durch Information und Wissen gesucht wird, um Risiken mit positiven und gewissen Werten zu kompensieren (Meier, Kwon, 2020).

Risikomanagement der Zukunft

Aktuell beobachten wir mit der Digitalisierung von allen (Personen) und allem (Dingen und Nicht-Dingen) unter dem Konzept von „Big Data“ eine neue, noch nicht abgeschlossene und revolutionäre Entwicklung, die eine nächste Stufe des Managements von Ungewissheit mit sich bringt. 2013 schuf der Journalist David Brooks in einem Artikel der New York Times für Big Data den englischen Begriff „data-ism“ („Dataismus“) als Synonym der digitalen Phase der Informationsgesellschaft. Wir sehen in dem Wandel aber auch eine anti-aufklärerische, nächste „Kulturrevolution“, die alle Bereiche der Gesellschaft – technisch, sozial (darunter auch kulturell und politisch), finanziell und juristisch – erfasst. Das betrifft sowohl das Private als auch die Wirtschaft.

Während Ungewissheit das Zeitalter vor und Wahrscheinlichkeit das Zeitalter nach der Aufklärung charakterisieren, bezeichnet Dataismus das aktuelle Zeitalter. Waren es bis jetzt überwiegend Geschichten und Texte und damit sprachlich prosaische und lyrische Narrative, die erzählt und interpretiert wurden, so sind es jetzt überwiegend Zahlen und Zeichen und damit schriftlich symbolische und logische Numerative, die gezählt und berechnet werden. Der Mensch mit natürlicher Intelligenz benötigt eine Maschine, demnächst mit künstlicher Intelligenz, um an diesen Numerativen teilzuhaben und ist damit abhängig von Technologie. Damit geht er seiner menschlichen Intelligenz und Kompetenz verlustig in einem Nirwana eines unverstandenen digitalen Systems, an das er seine Verantwortung für Entscheidungen und Handlungen delegiert hat (Han, 2012). Transparenz und Objektivität sind nur versprochen, aber nicht geliefert. Dual Use des Digitalen ist, wie bei jeder Technologie, das neue Normal. Was früher „Wissen ist Macht“ hieß, heißt heute „Daten sind Macht“, was grundsätzliche Fragen nach den Rechten an Daten und an die Legitimation von Macht aufgrund von Daten stellt. Aus unserer kritischen Sicht ist Dataismus die Rückkehr des Menschen in seine selbstgeschaffene und selbstverantwortete neue Unmündigkeit.

Risiko als Perspektive auf zukünftige, ungewisse und negative Wertpositionen ist im Hinblick auf Big Data noch nicht völlig verstanden und definiert. Gegenwärtig wird in Big Data mit lernenden Algorithmen der künstlichen Intelligenz herumgesucht (predictive data mining) und Datensammlungen über die Zeit (time line data mining) werden in Bezug auf Lernen analysiert. Qualitative Datenstrukturen und quantitative Ausprägungen von Datenmustern für Sach- und Personenverhalte werden auf Beziehungen zwischen der Vergangenheit des Gestern, der Gegenwart des Heute und der Zukunft des Morgen untersucht, verstanden und genutzt. Big Data fragt nicht nach den bedingten kausalen Theorien des „if-then-perhaps“, es steht alles in den „Relevant Data“ – it’s all data. Die Normalverteilung interessiert niemanden mehr, die Daten aber wollen alle haben. Und so betreiben Organisationen aller Art ein Lagezentrum und eine Aufklärungsabteilung, um in den Big Data die für sie relevanten Daten zu suchen, zu finden und zu analysieren. Als relevant werden insbesondere Daten zur Zukunft, ihrer Ungewissheit und damit zu Wagnis mit Risiko und Chance gesehen.

Kontakt

Munok Kwon (Autorin)
Unternehmensberaterin für Internationalisierung mittelständischer Unternehmen
Mitarbeiterin einer südkoreanischen internationalen Regierungsorganisation

Dr. Peter Meier (Autor)
Steinbeis-Unternehmer
Steinbeis-Transferzentrum Risikomanagement (Langen)

 

Literatur
  • Anderson, Chris: The End of Theory – The Data Deluge makes the Scientific Method obsolete, Wired, Jun. 23, 2008 (frei verfügbar auf www.wired.com)
  • Brooks, David: Opinion – The Philosophy of Data, New York Times, Feb. 04, 2013 (frei verfügbar auf www.nytimes.com)
  • Han, Byung-Chul: Psychopolitik – Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, S. Fischer, Frankfurt 2014
  • Heidbrink, Ludger: Handeln in der Ungewissheit – Paradoxien der Verantwortung, Kulturverlag Kadmos, Berlin 2007
  • Meier, Peter und Kwon, Munok: Auf das richtige Krisenmanagement kommt es an – Managementmethoden des Militärs als Basis für die aktuelle Krisenbewältigung, Steinbeis Transfer-Magazin, Sonderausgabe 2020, S. 76
  • Meier, Peter: Entscheiden und Führen mit dem OODA Konzept – Wie man Unternehmen auch in Krise und Wandel strategisch und operativ führt, Steinbeis Transfer-Magazin, Ausgabe 3/2021, S. 68
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