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Es geht nicht ohne: New Work braucht projektbasiertes Arbeiten

Das PIPE-Konzept bringt Studierende, Lehrende und Unternehmen zusammen

Was das sogenannte PIPE-Konzept zweier Professoren der Hochschule Konstanz verspricht, klingt beinah zu schön, um wahr zu sein: Es lässt Welten verschmelzen, und zwar die berufliche Arbeitswelt der Unternehmen und die Studierendenwelt der Hochschulen. Die nahtlose Verzahnung eines projektbasierten Trainingsansatzes in beiden Welten ermöglicht authentisches, praxisrelevantes lebenslanges Lernen für Studierende und Berufstätige gleichermaßen. Professor Dr. Ralf Schimkat und Professor Dr. Rainer Mueller entwickelten das PIPE (Project-In-Project-Experience)-Konzept innerhalb einer achtjährigen Erprobungsphase an der Hochschule Konstanz und optimierten es im Rahmen von Lehrveranstaltungen im Masterstudium.

Haben Absolventen im Studium die „richtigen“ Dinge gelernt, sind sie gut auf das Berufsleben und die neue Arbeitswelt in heutigen Unternehmen vorbereitet? Werden sie den Erwartungen des Arbeitgebers und der Kollegen gerecht? Wie können die Kompetenzen der Studierenden durch praxisrelevante Projekt- und Aufgabenstellungen verbessert werden? PIPE adressiert all diese Fragestellungen über ein multiples, projektbasiertes Trainingskonzept an der Hochschule in situierten Lernumgebungen authentisch und praxisrelevant – alle Beteiligten erweitern so dauerhaft ihren individuellen Wissens- und Kompetenzbereich.

Was ist typisch in der neuen Arbeitswelt?
„Projektbasiertes Arbeiten ist in unserer westlichen Industriewelt eine immer wichtiger werdende Schlüsselkompetenz. Komplexe, unvorhersehbare Arbeitsverläufe erfordern eine eher projektartige Vorgehensweise, während prozessartiges Vorgehen häufig nicht passgenau ist“, erklärt Ralf Schimkat, der an der Hochschule Konstanz Gesundheitsinformatik mit dem Schwerpunkt Software-Entwicklung lehrt und das Steinbeis-Transferzentrum Agiles IT-Management führt. Die geographische Verteilung von Teams, also deren Virtualisierung, ist bereits stark verbreitet und wird in Zukunft, nicht nur durch Pandemieerfahrungen und Nachhaltigkeitsstreben bedingt, deutlich zunehmen.

Wissen hat in der heutigen Arbeitswelt in vielen Branchen und Domänen einen sehr flüchtigen Charakter. Einmal in Hochschule oder Ausbildung erlerntes Wissen verliert schnell an Relevanz. Der Beruf erfordert heute eine hohe Autodidaktik-Kompetenz, die als „neue“ Professionalisierung während des beruflichen Alltags angewendet werden kann. Fachkräftemangel, stetig wechselnde Anforderungsprofile gepaart mit steigender Arbeitsplatzvolatilität der Arbeitnehmer durch veränderte Fernarbeitsszenarien erfordern von Arbeitgebern eine erhöhte Bereitschaft bei der Individualisierung von Arbeitsprofilen und -rollen.

Wie wird man der neuen Arbeitswelt gerecht?
PIPE ist ein alternatives Konzept für Trainings in der Arbeitswelt und Lehrveranstaltungen an Hochschulen, die in enger Kooperation von Unternehmen mit der Hochschule durchgeführt werden. Repräsentative Vertreter aus Unternehmen sind über die komplette Trainingszeit, das kann ein Semester mit 15 Wochen sein, inhärenter Bestandteil des Trainings – beispielsweise als Scrum Product Owner. „Zentrales Element von PIPE ist eine Kombination eines projektbasierten Trainings, dem Trainingsprojekt, in dem ein reales Projekt, das Anwendungsprojekt, als reales Trainingsszenario dient, also ein Projekt im Projekt“, erläutert Rainer Mueller Ansatz und Namensgebung des Konzepts. Er lehrt Wirtschaftsinformatik an der Hochschule Konstanz und leitet gemeinsam mit seinem Kollegen Ralf Schimkat das PIPE-Institute, das die gesammelten Erfahrungen in der Ausgestaltung von agilen Trainings und Lehrveranstaltungen bündelt.

In PIPE übernehmen alle Stakeholder, also Mitarbeitende der beteiligten Unternehmen, Studierende und Hochschuldozierende, wechselnde Rollen und damit sich verändernde Verantwortlichkeiten. Es gibt Rollen wie Teamleiter, Projektmoderatoren, Produktmanager, Auftraggeber, reguläre Projektmitarbeiter, aber auch Coaches und Dozierende. Die Inhalte und Aufgabenstellungen kommen von den Unternehmen selbst und haben einen möglichst realen, authentischen Hintergrund – im Idealfall reale Auftraggeber. Es werden moderne Kommunikations- und Kollaborationsmechanismen und agile Vorgehensweisen für verteiltes und mobiles Arbeiten trainiert und auf deren Basis neue, auf die individuellen Bedürfnisse der Unternehmen und ihrer Mitarbeiter zugeschnittene Methoden entwickelt.

Welchen Mehrwert liefert das PIPE-Konzept?
Studierende und Trainees werden in PIPE mit unterschiedlichen persönlichen Eingangsvoraussetzungen, Entwicklungsgeschwindigkeiten und Zielsetzungen unterstützt. Durch das feingranulare inkrementelle Vorgehen mit individuellen Trainingszielen und regelmäßigen Reflexionen im Team- und im Einzelmodus mit den Lehrenden als Coaches werden individuelle Lernpfade für jeden Teilnehmer unterstützt. Das trifft in letzter Instanz sogar auf die Coaches der Veranstaltung selbst zu.

Ein zentraler Fokus von PIPE liegt auf den Sozial- und Selbstkompetenzen in der Ausprägung der Kommunikationsfähigkeit, Kooperations- und Teamfähigkeit, Führungs- und Managementkompetenz, Interdisziplinarität, Selbstreflexion, Konfliktfähigkeit sowie kritischem Hinterfragen. Dies sind Kompetenzen, die für das eigenständige, insbesondere aber gemeinsame Arbeiten in verteilten, projektbasierten Teams eine zentrale Rolle spielen. Die Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten allein reicht nicht aus, um die Herausforderungen einer ungewissen Praxis autonom, eigenverantwortlich, reflektiert und begründet meistern zu können. Dafür haben organisatorische Rahmenbedingungen und situative Kontextfaktoren eine wichtige Bedeutung für die Entfaltung von Kompetenzen.

Unternehmensperspektive innerhalb PIPE
Mit einem Zeitbudget von rund vier Stunden in der Woche während der Projektphasen (Sprints) des Anwendungsprojekts nimmt ein Vertreter eines ausgesuchten Unternehmens in einer bestimmten Rolle (zum Beispiel Chief Product Owner) an den Lehrveranstaltungen teil. Ein solcher Sprint dauert in der Regel etwa drei Wochen und wird mit einer Retrospektive abgeschlossen. In der davor stattfindenden rund zweiwöchigen fachlichen Impulsphase übernimmt der Unternehmensvertreter keine aktive Rolle.

Das Zeitbudget wird über das komplette Training unterschiedlich aufgeteilt. So startet der Unternehmensvertreter zunächst eher im Hintergrund agierend, bis er schließlich im letzten Sprint vor Ende des Trainings oder Semesters zu 100 % in der jeweiligen Rolle – in Präsenz oder virtuell – den Trainees und Studierenden gegenübertritt.

Perspektive der Studierenden innerhalb PIPE
Das fortwährende Arbeiten und Lernen im Rahmen der beiden Projektinstanzen (Training und Anwendung) in PIPE ist typisch für teilnehmende Studierende. Es gibt keine summative Prüfung am Ende der Trainingszeit, etwa in Form einer Klausur am Semesterende. Der fortwährende Wechsel zwischen Theorie- und Praxisphasen im Rahmen eines Sprints erfolgt mehrmals über die Trainingszeit hinweg – dabei übernehmen die Studierenden ständig wechselnde Rollen. Die Theoriephase liefert neue, fachlich motivierte Trainings- und Lernimpulse, die in der unmittelbar darauffolgenden Praxisphase individuell verarbeitet und in den eigenen Kompetenzbereich übernommen werden – stets aktiv begleitet durch die Lehrenden als Lernbegleiter und Coaches (Live Coaching).

Feedback der Beteiligten
„Die enorm große Praxisrelevanz wird nahezu von allen Studierenden und Trainees sehr geschätzt. Den eigenen Kompetenzbereich in einem geschützten Rahmen, beispielsweise an der Hochschule, mit realen Beteiligten aus Unternehmen zu erweitern, wird als einzigartig und als persönlich sehr bereichernd empfunden“, freut sich Ralf Schimkat über das bisherige Feedback. Entstanden ist PIPE durch die initiale Idee, die Lehrveranstaltung selbst als agiles Projekt mit einer Laufzeit eines Semesters zu behandeln. Der damit verbundene Umgang mit Unsicherheiten und Ungewissheiten in diesem „Projekt”, die individualisierte Festlegung von Projekt- und Lernzielen mit den Studierenden und die fortwährenden Feedbackschleifen über den aktuellen Projekt- und Lernfortschritt sind kennzeichnende Elemente eines agilen Projektmanagements allgemein und in PIPE im Kontext von Trainings und Lernen insbesondere.