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Neue Arbeitsformen: toxisch oder zukunftsweisend?

Von den Herausforderungen und Chancen der New Work-Philosophie

Willkommen in der schönen neuen VUKA-Welt von morgen. Anforderungsprofil: Sie beherrschen Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität in Ihrem Arbeitsalltag – Tendenz steigend! In einer sich fortwährend beschleunigenden Arbeitswelt X.0 stellen Digitalisierung, Agilisierung, Flexibilisierung und das New Work-Paradigma die neuen Stellschrauben dar und gelten als unabdingbare Devisen im Transformationsprozess. Neue Berufe, Organisationsmodelle oder auch virtuelle Bürolandschaften: Die theoretische Zukunft der Arbeit scheint dynamisch, agil und digital zu sein. Wir scheinen an der Übergangsschwelle von modernen zu post- und meta-modernen Organisationen zu stehen. Die Prinzipien der Industrialisierung sind an ihre Grenzen gekommen und Unternehmen versuchen den aktuellen Anforderungen zu begegnen, indem sie sich anpassungsfähig, resilient und innovativ gestalten. Steinbeis-Experte Daniel Müller-Rang zeigt Wege auf, wie dies Unternehmen gelingen kann.

Wie gestalten wir eine Arbeitswelt, in der Mensch, Unternehmen und Technik optimal zusammenwirken? Während die einen Flexibilisierung und Agilität als alternativlos betrachten, befürchten die anderen bei zunehmender Digitalisierung das Zeitalter der Entfremdung und den Untergang menschlicher Interaktion, was soziale Identität und Austauschprozesse anbelangt. Steht der Mensch mit seiner Verwirklichung und Berufung noch im Mittelpunkt der Arbeitsprozesse oder ist der Mittelpunkt der Anforderungsbedarf der äußeren Gelegenheitsstruktur oder die Maximierung von Wirtschaftlichkeit durch die Erhöhung von Geschwindigkeit? Und wie können Organisationen Vertrauen bei ihren Mitarbeitern erzeugen und lernen, auch mit agiler Enttäuschung Schritt für Schritt umzugehen? Auch der Lernaspekt, das Schaffen von Lust auf Lernen, Verantwortung und das engagierte Zusammenarbeiten in digital unterstützten Lernfeldern, die die Katalysatoren eines beginnenden Wandels sein könnten, sind enorm wichtig. Dabei stellt sich auch die Frage nach der gelingenden virtuellen Führung und danach, welche Bedingungen für das Entstehen von Kooperation notwendig sind. Wie können Beziehungen digital gestaltet werden, um Kooperationen verlässlich zu machen? Entscheidend dabei ist, dass die Menschen auf diese Reise mitgenommen werden und wie sich ihr Verhältnis zur Digitalisierung gestaltet: Ist Digitalisierung wirklich so alternativlos, wie es scheint oder entsteht dieser Scheinkonsens durch Bequemlichkeit und Unwillen zum kritischen Hinterfragen?

Neuropsychologie und das Arbeiten auf Distanz
Um ein Bild von der Gefahr einer toxischen Dimension der neuen Transformationsbestrebungen zu bekommen, müssen wir zunächst die durch digitalisierte Arbeitsformen verursachte Distanz aus der Sicht der Neuropsychologie betrachten. Wenn der soziale, kollegiale Aspekt in Arbeitsteams und damit die physische Begegnung in den Hintergrund geraten, werden die Faktoren Wertschätzung, Vertrauen, Aufmerksamkeit und Anerkennung umso bedeutsamer und müssen aktiv in die neuen Formen der Interaktion mit viel Aufmerksamkeit transportiert oder entsprechende Erlebnisräume dafür geschaffen werden. Die emotionale Resonanz ist dabei ein wichtiger Faktor für die vertrauensvolle Zusammenarbeit, weil sie Wertschätzung und Anerkennung transportiert. Kommt durch Homeoffice kein regelmäßiger Austausch zustande, fühlen sich Mitarbeitende zunehmend sozial isoliert, dadurch schwindet die Bindung ans Unternehmen und die Wechselbereitschaft steigt. Führungskräfte sind jetzt gefragt, das Teamgefühl zu stärken, sei es durch Online-Team­events, gemeinsame „Kaffeepausen“ oder regelmäßige Mitarbeitergespräche. Das Soziale darf nicht verloren gehen und muss aktiv ausgestaltet werden. Nur so kann das limbische System – unser emotionales Zentrum des Gehirns – auch weiterhin seine stabilisierenden Impulse empfangen. Es macht neuropsychologisch einen Unterschied, ob wir jemandem live oder am Bildschirm begegnen, denn Bindung braucht Begegnung. Hierbei sind die Neuromodulatoren sowie das Oxytocin, auch als Bindungshormon bezeichnet, ausschlaggebend. Es wirkt leistungs- und beziehungsstabilisierend und leistet einen entscheidenden Beitrag zur Arbeitszufriedenheit und gemeinschaftlich orientierten Zielerreichung, wirkt pro-sozial, fördert soziale Beziehungen und kann zumindest unter bestimmten Bedingungen vertrauensstärkend wirken.[2] Dies muss unter virtuellen Arbeitsbedingungen noch einmal bewusster von Unternehmen und Führungskräften angegangen werden.

Persönlichkeitstypen und die New Work-Verträglichkeit
Eine Arbeitswelt, die ambig, komplex und stark auf Agilität und Selbstverantwortung der Mitarbeitenden ausgerichtet ist, setzt bestimmte Dinge voraus, die dem einen Persönlichkeitstyp leichter fallen, während andere einen höheren Unterstützungs- und Lernbedarf in diese Richtung aufweisen. Menschen mit einer hohen Ambiguitätstoleranz sind dort im Vorteil, wo perspektiv­offen gedacht werden kann und weniger „richtig/falsch“-Kategorien angewendet werden müssen. Das Unbekannte kann von ihnen sogar als Motivation wahrgenommen werden. Persönlichkeitsfaktoren wie Extraversion, Offenheit für neue Erfahrungen und Emotionalität wirken dabei positiv korrelierend auf den Kontext der New Work-Anforderungen und gestalten diese positiv aus. Auch Faktoren wie Intelligenz, Identifikationsfähigkeit oder betriebliche Zugehörigkeit wirken darauf ein.[6] Für ambiguitätsintolerante Menschen wirken unsichere, mehrdeutige und schwer durchschaubare Situationen allerdings bedrohlich und sie versuchen diese zu vermeiden. Introvertierte Persönlichkeitstypen können dabei durch solche Prozesse Gefahr laufen, vom Identifikationsprozess oder dem sozialen Schulterschluss zu den Kollegen abgehängt zu werden, was das bisherige Lebenskonzept und die darauf aufbauende Arbeitsmotivation und Identifikation in nicht unerheblichem Maß infrage stellen kann. Ein emotionaler und introvertierter Mensch wird, wenn ihm das soziale, identitätsstiftende, ritualisierte tägliche Miteinander genommen wird, eher Schwierigkeiten haben, sich in der neuen Welt zurecht zu finden und mit Angst und Stress auf die Anforderungen reagieren. Faktoren, die eine solche Entwicklung begünstigen, müssen berücksichtigt und von Unternehmen vermieden werden, um den menschlichen Unterschieden Rechnung zu tragen. Dabei ist „Psychological Safe­ty“ ein weiterer zentraler Faktor: Wenn Mitarbeitende sie selbst sein, ihre Stimme vertrauensvoll erheben und Fragen stellen können, ist man einer angstfreien Organisation ein großes Stück nähergekommen.[3]

New Work-Philosophie im Realitätscheck
Das New Work-Paradigma stellt nicht nur zunehmend die tradierten und bewährten Arbeitsstrukturen in Frage, sondern dank der Flexibilisierung, Eigenverantwortung und des Blicks auf das eigene Selbst das eigenverantwortliche Arbeiten und die Identifikation mit der eigenen Arbeit auf ein neues Podest. Hierbei geht es um ein Menschenbild, das sich im Umbruch befindet und von der Selbstverwirklichungstendenz bis zur Sinngebung des eigenen Seins über die Arbeit sich neu herausbildet. Bei vielen war im Realitätscheck und Vergleich zur New Work-Vision die Sicht in der Vergangenheit von pragmatischen Zügen gekennzeichnet: Wer den Ehrgeiz hat, beruflich voranzukommen, muss funktionieren statt zu reflektieren. Je professioneller wir agieren, also je mehr wir es schaffen, uns auf die Regeln unseres Jobs einzulassen und andere Erwägungen, die über den Zweck rational hinausgehen, außer Acht zu lassen, umso sicherer ist uns die Anerkennung anderer – unserer Organisation, unserer Führungskraft, unserer Kollegen, der Gesellschaft. Dabei ist die Realität, wenn man ihr offen gegenübertritt, oftmals eher nüchtern als visionär oder revolutionär: Wir bemühen uns ständig, uns an – oft nur vermuteten – Erwartungen anderer anzupassen. Dies bedeutet eine stetige Skepsis der sozialen Umgebung gegenüber sowie eine Selbstverunsicherung und Entfernung von seinem Selbst in nicht geringfügigem Maße. Denn zu einem selbst geschaffenen Standpunkt und einer eigenverantwortlich gefühlten Selbstwirksamkeit kommen wir so nicht.[1]

Um dies zu erreichen, müssen wir dem gewünschten Wandel mit Mut begegnen, um ihn auch innerlich realisieren und Chancen zur Gestaltung nutzen zu können, auch wenn es sich vielleicht anfangs ungewohnt anfühlt. Aber ein agiles Mindset, das Werte wie Offenheit und Lernbereitschaft umfasst, ist kein Selbstläufer, der auf Knopfdruck die Probleme unserer Wirtschaft, unserer Arbeitswelt und unserer Gesellschaft löst. Agilität heißt vor allem, einen inneren Prozess der Transformation zu verwirklichen, der nicht nur schnell und flexibel auf das Marktgeschehen reagiert und den Kunden im Fokus hat, sondern vor allem ganzheitlich darüber hinausreicht und reift. Gelingt dies nicht in unserer ehrgeizig ausgeübten Professionalität, geraten wir in ein Spannungsfeld, uns als moralische Individuen zu verlieren und eigene Bewertungsmaßstäbe sowie persönliche Ressourcen und Lebensansichten den Zielen des Kollektivs unterzuordnen und damit langfristig zu opfern. Daher ist die Maßgabe innerhalb einer New Work-Philosophie und Selbstreifung in diese Richtung den eigenen Anpassungsstress zu durchschauen, ihn auszuhalten und sich mutig mit den eigenen intrinsischen Wertmaximen auseinanderzusetzen und zu positionieren. Dazu gehört es auch, Professionalität nicht ausschließlich für eine Tugend zu halten.

Kann zu viel Agilität schädlich sein?
Die größte Gefahr besteht darin, dass den Betroffenen das neue Verständnis von der Arbeitsorganisation, Teaminteraktion und Kundenorientierung oft ohne internen gemeinschaftlichen Prozess regelrecht auferlegt wird. Darüber hinaus wird Agilität oft unvollständig oder fehlerhaft umgesetzt, was zu Widersprüchen mit anderen geltenden Regeln und damit zu Reibungsverlusten und Konflikten führen kann. Auch das Missverständnis, dass es sich hier um ein Tool zur Steigerung von Effizienz und Innovation handelt, ohne die menschlichen und kulturellen Aspekte zu berücksichtigen, verursacht Irritationen im Entwicklungsprozess. Weitere Schwierigkeiten entstehen durch das agile Arbeiten selbst, das eine hohe Selbstkompetenz voraussetzt und viele Aufgaben auf Mitarbeitende überträgt, um die sie sich vorher nicht kümmern mussten. Um negative Auswirkungen zu vermeiden, müssen Betroffene von Anfang an eingebunden werden und mitentscheiden können. Es kann auch notwendig sein, agile Formen und Prozesse selektiv einzusetzen und sogar im Zweifel darauf zu verzichten.

Agilität in der Weiterentwicklung
Eine Agilität 2.0, die vor diesem Hintergrund angeregt wird, hat nicht nur den Kunden und den Erfolg des einzelnen Unternehmens im Blick, es geht auch um den Menschen, die menschliche Würde. Man spricht dabei auch von sogenannter Postagilität.[5] Diese setzt ihren Fokus zusätzlich auf den Menschen und das Gemeinwohl. Letztlich braucht es beides: Verantwortungsbewusstsein für den Betrieb und die Gesellschaft, schnelle Reaktion und die reaktive Reflexion, Agieren im Jetzt und absoluten Gestaltungswillen für die Zukunft. Der qualitative Anspruch und die Erwartungshaltung, die damit langfristig korreliert, hängen die Messlatte sehr hoch: Es geht darum, sich auch der Frage zu stellen, wie nachhaltiger Nutzen gestiftet wird. Nicht nur agile Werte, sondern vor allem der größere Kontext, in den Maßnahmen und Entscheidungen eingebettet sind, zeigen dabei den Weg. Somit entstehen Chancen, gesellschaftliche Werte als Bezugsgröße für unternehmerisches Handeln miteinzubeziehen und diese als Grundpfeiler im unternehmerischen Handeln zu etablieren. Aber auch das darin transportierte Menschenbild wirft Positionierungsanforderungen auf: Wollen wir erwachsene und selbstbestimmte Konsumenten oder wollen wir datengesteuerte Roboter, die sich lenken lassen? Nicht nur Innovation, sondern gemeinschaftlich orientierter Fortschritt und ein klares Bekenntnis zu Werten in der engen Verzahnung zwischen Ökonomie und Gesellschaft sind dabei der Ruf der Stunde. Postagiles Führen und Entscheiden richtet den Blick auf den Menschen, die Gemeinschaft, in der Dinge erzeugt werden und das auch über das Unternehmensinteresse hinaus. Es geht dabei um Ideen, die wir als Gesellschaft vorantreiben wollen, mit denen wir uns identifizieren, wie wir leben und arbeiten wollen. Es geht um die Vision einer an Nachhaltigkeit und Gemeinwohl ausgerichteten Wirtschaft. Alles andere wird auch vor dem Hintergrund zusammenbrechender ökologischer Systeme nicht lange aufrechtzuerhalten sein.

Dieses Bekenntnis zu gesellschaftlich getragenen Bezugsgrößen bietet die Chance, einen intrinsischen Führungsleitfaden zu etablieren, Wertesicherung herzustellen und die personenabhängige Willkür aus grundlegenden Entscheidungen zur Unternehmensentwicklung zu nehmen. Führen heißt in noch umfassenderem Maße im Spektrum dieses Wertekanons zu agieren. Langfristige Perspektiven werden unerlässlich und wertvoll, auch wenn situativ kurzfristig agil gehandelt wird. Postagiles Führen begreift die Zukunft als Möglichkeitsraum, den es zu gestalten gilt, und das zusammen mit Werten, die von einer großen Grundgesamtheit getragen werden. Eine Erkenntnis ist dabei, dass Arbeiten und Lernen nicht mehr voneinander zu trennen sind. Unternehmerische Entwicklung ist nur möglich, wenn der Erwerb, die Nutzung und die Weitergabe von Wissen und Fähigkeiten in der gesamten Organisation auf ein neues Niveau gehoben werden. Denn neue Lernformen werden in der Organisation nur wirksam, wenn die Lernenden entsprechend unterstützt und herangeführt werden. Individuen wiederum initiieren Lernprozesse nur dann, wenn sie sie für sich persönlich als sinnvoll betrachten.[4] Dafür braucht es positiv besetzte Leitbilder und flankierend die Umsetzung durch Vorbilder im Kontext von transparenter, menschennaher Führung. Zur Veränderung der Organisationskultur gehört somit auch immer die Entwicklung der Lernkultur, die somit im Rahmen der neuen Arbeitsformen und der Digitalisierung ein Update erfahren muss. New Work ist ein Lernprozess, der ganzheitlich über alle Ebenen und in einer ständigen und kontinuierlichen Reflektionsschleife verläuft.

Blick in die Zukunft
Alles in allem zeigt sich: Mithilfe der Digitalisierung können positive und attraktive Maßnahmen umgesetzt werden. Allerdings hat jedes Unternehmen ebenso wie jeder einzelne Mitarbeiter andere Anforderungen und Bedürfnisse. Wenn es um die Arbeit und das persönliche Wohlbefinden geht, wird es schlichtweg besonders individuell. Die Kunst besteht daher zukünftig darin, verschiedene Angebote vorzuhalten, die unterschiedliche Zielgruppen in ihrer jeweiligen Lebensphase benötigen.

Ein epochaler Wandel der Arbeitskultur steht also bevor. Wer sich einmal auf diesen Weg gemacht hat, wird feststellen, dass Digitalisierung und Agilisierung als Zielmarken noch Beratungsbedarf haben, was die Anforderungen an den Menschen angeht. Dieser muss bei aller Funktionalität und dem Allheilversprechen neuer Ansätze und (Lern-)Methoden seine ganz eigene Dimension von Transformation meistern. Hierbei wird der Agilisierungsprozess durch die Themen der New Work und neue Lernformen ergänzt. Die Herausforderungen im Prozess sind, dass Führung und Organisation sowie das Lernen auf allen Ebenen Hand in Hand gehen, um den Transformationsprozess zu meistern. Das Thema Lernen und die zielgerichtete Entwicklung der menschlichen Ressourcen über alle betrieblichen Ebenen hinweg nimmt somit einen großen Platz ein und muss im Rahmen des Transformationsprozesses als Erfordernis stehen, um mögliche, nicht-intendierte Formen und Auswirkungen des Transformationsprozesses auf die menschliche Arbeitswelt zu vermeiden.

Die Experten der Steinbeis Consulting Group Personal (SCGP), die sich schwerpunktmäßig gelingender Organisationsberatung im Spannungsfeld von Transformation und HR-Management verschrieben hat, und der Steinbeis Consulting Group Digital Business Transformation (SCG DBT) unterstützen Unternehmen dabei, diesen Transformationsprozess erfolgreich zu gestalten.