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Über die Innovationskraft von disruptiven Netzwerken

Wie der Steinbeis-Verbund von Disruption profitieren kann

In Zeiten der Disruption und digitalen Transformation ist eine grundlegende Umgestaltung der Innovationsnetzwerke notwendig, um neuen Herausforderungen begegnen zu können. Professor Dr.-Ing. Aleksandar Jovanovic, Geschäftsführer der Steinbeis EU-VRI GmbH, hat sich mit der Frage beschäftigt, welche strukturelle Veränderungen notwendig sind, damit der Steinbeis-Verbund im disruptiven Wandel erfolgreich bestehen kann.

Als Clayton Christensen von der Harvard Business School in seinem Buch „The Innovator’s Dilemma“ die Theorie der disruptiven Innovation aufstellte, verwendete er den Begriff in erster Linie, um Innovationen und Innovatoren zu beschreiben, die neue, bis dahin unbekannte Kundenkategorien finden. Das Begriffsverständnis entwickelte sich jedoch ständig weiter und beschreibt heutzutage auch disruptive neue Technologien, die disruptive Nutzung alter Technologien oder disruptive Geschäftsmodelle, die alle eine Alternative zu herkömmlichen Innovationen, Technologien und Modellen darstellen. Daher umfasst „disruptiv“ heute praktisch alles in Wirtschaft und Gesellschaft, was einen plötzlichen, unerwarteten Wandel erfahren kann, einschließlich der grundlegenden Paradigmen, die seit Jahren gelten und angewandt werden.

Disruption kann auch Fragen umfassen, die aufkommen, wenn Systeme ihr Ende erreicht haben – oder beendet werden sollen. Bei der Suche nach Agilität und Resilienz muss auch diese Option in Betracht gezogen werden. „The Economist“ schlug in diesem Zusammenhang vor, zu untersuchen, was passieren würden, wenn die Finanzmärkte zusammenbrechen.[1] Es liegt auf der Hand, dass komplexe und ausgeklügelte Systeme, beispielsweise die westlichen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Strukturen (einschließlich der Innovationsnetzwerke), von Natur aus anfälliger für unerwartete Ereignisse sind. Andererseits sind diese Systeme im Allgemeinen auch weniger bereit, „große Störungen“ überhaupt in Betracht zu ziehen. Sie sind vor allem damit beschäftigt, ihr eigenes Lean Management oder ihre Just-in-time-Lieferungen zu optimieren und übersehen dabei beispielsweise die globale Finanzkrise, Pandemien oder den globalen Zusammenbruch der Lieferketten.

Auch wenn er aktuell noch kaum Erwähnung findet, ist ein radikaler Wandel bei der Finanzierung und Unterstützung von Innovation möglich, erste Anzeichen werden bereits registriert. Die „digitale Transformation von allem“ (auch als „DX“ bezeichnet) ist eine große Chance, aber sie macht den Umgang mit Disruption nicht einfacher: Sie kann das Gesamtbild verwischen, zu falschem Selbstvertrauen und sogar zu falschen Wahrnehmungen der Kernbeziehungen führen.

Das DARPA-Modell als Disruptionsförderer
Als 1957 der damalige US-Präsident Eisenhower die Advanced Research Projects Agency (ARPA) gründete und mit einem Budget von 500 Millionen Dollar ausstattete, bezeichnete niemand diese Maßnahme als „disruptiv” – aber sie war es. Die ARPA begann ohne Büro, ohne Labore und ohne ständiges Personal, ihr Ziel war es, „die unvorstellbaren Waffen der Zukunft vorauszusehen”. Obwohl nicht klar war, wie das gehen sollte, haben die ARPA und ihre Nachfolgerin DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency) genau das getan: Sie ebneten den Weg für bahnbrechende Technologien wie Wettersatelliten, GPS, Drohnen, PC und das Internet.

Das Modell wurde weitgehend von anderen Ländern übernommen, die EU investiert beispielsweise fast 100 Milliarden Euro in ihr Programm Horizon Europe und das Vereinigte Königreich hat nicht nur Finanzen bereitgestellt, sondern dem Thema auch höchste Priorität eingeräumt. Bei der Anwendung des DARPA-Modells übersehen viele jedoch zwei wichtige Dinge: erstens das Fehlen eines klar definierten Auftrags und geplanter greifbarer Ergebnisse und zweitens den „Investorencharakter“. Im Jahr 2013 investierte die DARPA beispielsweise 25 Millionen Dollar in ein kleines, neues Unternehmen namens Moderna, um mRNA-Impfstoffe zu entwickeln – von den Früchten dieser Arbeit profitieren wir heute. Die EU kann – trotz der zur Verfügung gestellten Mittel – kaum eine mit dem US-Modell vergleichbare Leistung vorweisen. Die national geförderte Forschung in Europa unterscheidet sich nicht wesentlich von der EU-Forschung: Es gibt eine Fülle von Ergebnissen, aber kaum die gewünschte „disruptive Innovation“ oder das Erreichen von „Mondflug-Herausforderungen“.

Neue Art der disruptiven Vernetzung
Das Beispiel der Entwicklung und Bereitstellung von mRNA-Impfstoffen in weniger als einem Jahr veranschaulicht die Stärke neuer disruptiver Networking-Modelle bei Kooperationen, die von der Boston Consulting Group (BCG) als „strategische Allianzen“ bezeichnet werden. Partnerschaften, in denen die Pharmariesen, die für klinische Versuche und behördliche Genehmigungen benötigte Infrastruktur und öffentliche Unterstützung für Massenproduktion und Vertrieb zusammengebracht werden, sind nur einige von vielen. Derzeit gibt es fast 10.000 registrierte Partnerschaften, wobei die Zahl im Zeitraum 2020/21 drastisch gestiegen ist – nach Angaben der BCG ist die Zahl um das Achtfache gestiegen. Verschiedene Sektoren wie Gesundheit, Verkehr, Konsumgüter oder Dienstleistungen haben in solchen disruptiven Partnerschaften an mehreren Fronten einen klaren Wettbewerbsvorteil erkannt und sehen darin eine der besten Möglichkeiten, dem dringenden Bedarf an Innovation, Skalierung und schneller Markteinführung gerecht zu werden. Es ist jedoch nicht einfach, eine solche neue Art von Partnerschaft aufzubauen, viele davon scheitern. Das Risiko für beteiligte Unternehmen besteht darin, dass monatelange Investitionen in eine erfolglose gemeinsame Entwicklung eines Spitzenproduktes zu großen Verlusten führen können. Gleichzeitig kann das Risiko eine Chance für diejenigen sein, die ihre Unterstützung in den „heißen“ Branchen sehen, in denen disruptive Vernetzung unverzichtbar ist.

Die erfolgreichen Netzwerke basieren auf klaren Vereinbarungen über mittel- bis langfristige Partnerschaften, in denen jeder Partner zum gemeinsamen Ziel beiträgt und sich für engere Zusammenarbeit und höhere Flexibilität einsetzt, auch wenn das Endergebnis oft ungewiss ist. Solche Partnerschaften lassen sich viel einfacher etablieren und auflösen als Joint Ventures oder Fusionen. Sie können sich auf die gemeinsame Arbeit an einer einzigen Produktlinie konzentrieren und gemeinsam Projekte experimenteller Art in Angriff nehmen. Steinbeis EU-VRi – European Risk & Resilience Institute hat langjährige Erfahrung mit „neuen Partnerschaften“, EU- wie auch weltweit.

Disruption als Chance für Steinbeis-Unternehmen
Steinbeis ist eine netzwerkbasierte Organisation aus zahlreichen Steinbeis-Unternehmen, allerdings nicht zwangsläufig im Sinne der Netzwerkbildung und der disruptiven Vernetzung. Dabei sind Vernetzung, Innovation und Technologietransfer als Eckpfeiler des Steinbeis-Netzwerks heute und in Zukunft noch stärker von den genannten Disruptionen betroffen. Aktuell ist die Vernetzung mit externen Partnern im Allgemeinen stärker als die interne Vernetzung („Bündelung von Ressourcen“) und ist die Folge der heutigen Innovationsfinanzierungen. Um seine Position zu stärken und sich dauerhaft einen Platz in den disruptiven Netzwerken zu sichern, sollten die Steinbeis-Unternehmen daher ihr Angebot und ihre Fähigkeiten im Lösen bestimmter Probleme im Rahmen eines „portfolio games“ definieren.

Da Partnerschaften flexibler sind als andere Arten der Zusammenarbeit, sollte im Verbund verstärkt daraufgesetzt werden. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass die Partner optimal zueinander und zum Thema passen und deren Interessen und Strategien übereinstimmen: es gibt keinen Platz für „Overhead-Partner”. Der Beitrag jedes Partners zum Portfolio muss genau definiert werden: Zum Beispiel hat Daimler im Bereich der Elektromobilität direkte Partnerschaften mit der chinesischen BAIC Group und dem US-Elektrobushersteller Proterra, für autonome Fahrsysteme mit BMW, Bosch und Torc Robotics sowie für die elektrische Infrastruktur mit ChargePoint, aber alle sind direkt und „schlank”. Wenn Steinbeis dabei sein will, muss der von ihm geschaffene Mehrwert wie bei allen anderen Partnern klar definiert und für alle sichtbar sein.

Unternehmen und Steinbeis-Unternehmen sollten unter anderem vermehrt auf die DX-Networking-ähnlichen Erfahrungen mit beispielsweise Micro Testbeds, dem Industrial Internet Consortium (IIC), den Virtual-Institute-Mechanismen oder großen internationalen industriellen DX-­Projekten der Steinbeis EU-VRI GmbH als gute Ausgangsbasis setzen. Der endgültige Erfolg wird jedoch durch die notwendige Skalierung/das Upscaling und eine klare Unternehmensstrategie für den erfolgreichen Umgang mit dem heutigen (und vor allem dem zukünftigen!) hochgradig disruptiven DX-gebundenen Wandel bestimmt.

Kontakt

Prof. Dr.-Ing. Aleksandar Jovanovic (Autor)
Geschäftsführer
Steinbeis EU-VRI GmbH
European Risk & Resilience Institute (Stuttgart)
www.risk-technologies.com


Quellen
[1] Economist, 12. Februar 2022217077-20
217077-20