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„Wir werden neue Währungen für die Verkehrs­infrastruktur benötigen“

Im Gespräch mit Professor Dr.-Ing. Markus Stöckner, Professor Dr.-Ing. Thorsten Cypra und Professor Dr.-Ing. Christian Holldorb, Steinbeis-Unternehmer am Steinbeis-Transferzentrum Infrastrukturmanagement im
Verkehrswesen (IMV)

Mobilität bedeutet Freiheit – Einschränkungen wie in der aktuellen Pandemie machen das einmal mehr deutlich. Bei der Entwicklung der Mobilität der Zukunft spielen neben den viel diskutierten neuen Mobilitätsformen auch das Verkehrswesen und die Verkehrsinfrastruktur eine wesentliche Rolle. Das Team des Steinbeis-Transferzentrums Infrastrukturmanagement im Verkehrswesen an der Hochschule Karlsruhe beschäftigt sich intensiv mit der Frage, wie eine nachhaltige Vision einer zukünftigen Verkehrsinfrastruktur aussehen kann. Die TRANSFER hat im Gespräch einen Einblick bekommen.

Herr Professor Stöckner, Herr Professor Cypra, Herr Professor Holldorb, welche Rolle spielt aktuell die Nachhaltigkeit im Verkehrswesen?

Markus Stöckner:
Die Sichtweisen auf die Nachhaltigkeit im Verkehrswesen unterscheiden sich stark. Die aktuelle Diskussion konzentriert sich auf die unterschiedlichen Mobilitätsformen, wie beispielsweise die Förderung des Radverkehrs, der E-Mobilität oder alternativer Treibstoffe. Das ist im gesellschaftlichen Fokus und unterliegt einem ständigen Diskurs. Zum Verkehrswesen gehört aber auch die Verkehrsinfrastruktur, die noch nicht im Fokus der Gesamtdiskussion steht. Diese Infrastruktur muss nachhaltig und unabhängig von der Mobilitätsform oder von Antriebssystemen sein. Bau, Betrieb und Erhalt der Verkehrsinfrastruktur müssen berücksichtigt werden, was einen beträchtlichen Einfluss auf Fragestellungen der Lebensdaueranalyse, der Kreislaufwirtschaft und der CO2-Wirtschaft hat. So werden derzeit Konzepte bereits von der Planung bis zum Bau und Betrieb von Verkehrsinfrastrukturen unter Nachhaltigkeitsaspekten betrachtet. Perspektivisch werden dann Transportmittel, Nutzersteuerung mittels Telematik und Infrastruktur zu einer Gesamtbetrachtung verknüpft werden.

Christian Holldorb:
Versteht man Nachhaltigkeit als inte­grale Betrachtung ökologischer, ökonomischer und sozialer Aspekte, hat sie einen sehr hohen Stellenwert. Während in der Vergangenheit oftmals Projekte und Konzepte nur unter ausgewählten Blickwinkeln betrachtet wurden, rückt aktuell die ganzheitliche, nachhaltige Betrachtung in den Vordergrund. Diese systematisierte Betrachtung, gepaart mit der notwendigen Einbeziehung des gesamten Lebenszyklus, gewinnt gerade bei der Bewertung von Verkehrsinfrastruktur enorme Bedeutung. Im Planungsprozess stehen schon lange unterschiedliche Aspekte bei der Bewertung von Varianten und Alternativen im Vordergrund. Es gibt nicht die „optimale“ Planung, eine Variantenbewertung stellt immer eine Abwägung, einen Kompromiss dar. Bei Bau, Erhalt und Betrieb hingegen steht meist die monetäre Bewertung im Vordergrund, sei es bei der Vergabe von Bauleistungen, im Erhaltungsmanagement oder bei der Kosteneffizienz im Straßenbetriebsdienst. Weitere Aspekte wurden oft nur nachgelagert berücksichtigt. Hier wird es zu einem Umdenken kommen, wir werden neben der Bewertung in Euro neue Währungen für die Verkehrsinfrastruktur benötigen, beispielsweise „CO2-­Emission“ oder „Ressourcenverbrauch“. Da es in der Regel für die Verkehrsinfrastruktur keinen „Markt“ gibt, sind diese Nachhaltigkeitsaspekte noch nicht so stark entwickelt, wie in anderen Branchen.

Thorsten Cypra:
Dieses Thema wird auch bei Bund, Ländern und Kommunen immer wichtiger. Dem nachhaltigen Bau und Betrieb der Verkehrsinfrastruktur mit den dazugehörigen Gebäuden und Fahrzeugen wird ein entsprechendes Gewicht in den Entscheidungs- und Planungsprozessen gegeben. Diese Entwicklungen werden durch neue Rahmenbedingungen, wie die Einhaltung der Klimaschutzziele bis 2045 und das darin liegende Potenzial für den Gebäude- und Verkehrsbereich, beschleunigt. Sie führen andererseits zur Schaffung und Unterstützung eines positiven Images, das attraktive Lebens- und Arbeitsräume zur Folge hat. So beraten wir als Steinbeis-Team IMV Länder und Kommunen, wie beispielsweise Gebäude zum Betrieb der Verkehrsin­frastruktur nachhaltig geplant und genutzt werden können oder wie ein Fuhrpark in den nächsten Jahren im Hinblick auf die Einhaltung der Klimaschutzziele transformiert werden könnte.

Welche Herausforderungen liegen noch vor dem Verkehrswesen, damit es wirklich nachhaltig wird?

Christian Holldorb:
Für ein nachhaltiges Verkehrswesen sind nicht nur technische und ökonomische Fragestellungen maßgebend, sondern auch gesellschaftliche Bewertungen, da die Mobilität einer der Schlüssel für unseren Alltag ist: angefangen beim globalen Warenaustausch, über Reisen bis hin zur Nahmobilität. Diese Themen können nur in der politischen Diskussion in der Gesellschaft beantwortet werden. Das Verkehrswesen, also die fachliche Seite, kann die Informationen für eine sachliche Diskussion bereitstellen.

Auch in Sachen Verkehrsinfrastruktur stehen wir vor großen Herausforderungen, sowohl bei Material und Verfahren als auch beim Finden der besten Lösungen. Aktuelles Beispiel ist ein laufendes Forschungsprojekt zur ökonomischen Durchführung der ökologischen Grünpflege, das wir im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur am Steinbeis-Transferzentrum IMV bearbeiten. Wir befassen uns mit der Frage, wie die berechtigten Aspekte des Artenschutzes mit den immensen Aufgaben in der Pflege des Straßenbegleitgrüns in Einklang zu bringen sind. Hier können neue Technologien wie auch optimierte Prozesse unterstützen. Letztendlich müssen aber die unterschiedlichen Ziele im Sinne der Nachhaltigkeit abgewogen werden.

Wie kann Sie die Digitalisierung bei diesen Aufgaben unterstützen?

Markus Stöckner:
Grundsätzlich erfordern alle Bereiche eines nachhaltigen Verkehrswesens IT-­gestützte Steuerungssysteme. Alle notwendigen Verfahren, Anwendungen und Technologien erfordern eine sachgerechte Datengrundlage. Für die Verkehrsinfrastruktur bedeutet dies, dass wir einen digitalen Zwilling benötigen, in dem die relevanten Informationen für die verschiedenen Anwendungen aktuell und valide hinterlegt sind. Hätte man dies und würden diese Informationen barrierefrei, also herstellerunabhängig, in einem lesbaren Format vorliegen, könnten unterschiedliche Anwendungsbereiche von der Planung über das autonome Fahren bis hin zum Asset Management der Verkehrsinfrastruktur mit den notwendigen Informationen versorgt werden. Derzeit liegen diese Informationen in verteilten Systemen vor, die eine unterschiedliche räumliche Referenzierung aufweisen und zudem über jeweils abweichende Ontologien verfügen. Ziel muss es daher sein, die notwendigen Informationen zu identifizieren, sie für die verschiedenen Anwendungen in einem digitalen Zwilling vorzuhalten und bedarfsgerecht zur Verfügung zu stellen. Das ist noch ein weiter Weg, aber die Methode des Building Information Modelling, kurz BIM, wird uns auf diesem Weg unterstützen. Als Steinbeis-Team IMV sind wir an einem D-A-CH- Forschungsprojekt beteiligt, in dem wir die Grundlagen zu einem BIM-Modell für das Asset Management der Verkehrsanlagen für die Straßenbauverwaltungen erarbeiten. Das ist nur ein kleiner Schritt, aber es ist unerlässlich diese Informationen zur Verfügung zu stellen, damit andere Anwendungen überhaupt die notwendigen Daten haben. Mathematisch würde man zur Digitalisierung sagen: notwendig, aber nicht hinreichend. Das drückt die Basisfunktion der Digitalisierung klar aus.

Wenn es um das Verkehrswesen geht, ist Sicherheit ein wichtiges Thema und auch hier spielt Nachhaltigkeit eine große Rolle: Was bedeutet nachhaltige Verkehrssicherheit und wie kann sie gewährleistet werden?

Thorsten Cypra:
Die Verkehrssicherheit zu gewährleisten und zu erhöhen ist ein zentrales Leitbild in der Planung und im Betrieb unserer Verkehrsinfrastruktur. Die Zahl der jährlich im Straßenverkehr tödlich verunglückten Menschen ist seit Jahren rückläufig und so niedrig wie noch nie. Nichtsdestotrotz verursachen schwere Verkehrsunfälle menschliches Leid und gesellschaftlichen Schaden mit weitreichenden Auswirkungen. Mit „Vision Zero“, dem Leitbild der Europäischen Union, verfolgen die europäischen Länder das langfristige Ziel, keine Getöteten und Schwerverletzten im Straßenverkehr mehr zu haben. Hier sind verschiedene Akteure gefordert: Mensch und Gesellschaft, Fahrzeug, Verkehrsinfrastruktur und Gesetzgeber. Daher sind Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit wichtige Beiträge im Sinne der Nachhaltigkeit im Verkehr mit positiven Effekten aus wirtschaftlicher, ökologischer und gesellschaftlicher Sicht.

Betrachtet man das nun noch unter dem Blickwinkel der Mobilitätswende zur Erreichung der Klimaschutzziele, wird dieser Aspekt umso wichtiger. So werden in vielen Kommunen aktuell Mobilitätskonzepte erarbeitet und umgesetzt. Der Rad- und Fußgängerverkehr sowie der ÖPNV werden gefördert, was entsprechende Veränderungen im Verkehrsraum nach sich zieht. Gerade der Radverkehr hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Bei diesen Umgestaltungen der Infrastruktur ist es besonders wichtig, die Verkehrssicherheit für alle Verkehrsteilnehmer im Fokus zu haben.