Was die Evolution Wirtschaft und Gesellschaft lehrt

Kooperation, adaptive Radiation und Nischenbildung können zu mehr Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit beitragen

Von der Evolution lernen – und dadurch wirtschaftliche und soziale Prozesse nachhaltiger und gerechter gestalten: Wenn wir in der Entwicklungsgeschichte lebender Systeme zurückblicken, finden wir eine Vielzahl etablierter Grundprinzipien, die sich auch auf unsere Gesellschaft und unser heutiges Leben übertragen lassen. Denn die Natur hat im Laufe der Jahrmillionen Mechanismen entwickelt, die zu reichen, vielfältigen, stabilen und gleichzeitig dynamischen Ökosystemen führen. Was lässt sich daraus heute ableiten? Wenn er sich nicht gerade auf die Medizinelektronik fokussiert, geht Professor Dr. Bernhard Wolf vom Steinbeis-Transferzentrum Medizinische Elektronik und Lab on Chip-­Systeme bei seinen systemmedizinischen Überlegungen auch dieser Frage nach.

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Die erste Erkenntnis bei der Rückschau in die Evolutionsgeschichte ist: Kooperatives Verhalten ist besser als konfrontativer Wettbewerb. Zwar war Wettbewerb in der Evolution von Anfang an eine wichtige Größe. Doch schon früh zeigte sich, dass es für Einzeller ein entscheidender Vorteil ist, mit anderen Einzellern einen einfachen Organismus zu bilden – der Schutz vor Angreifern war so besser gewährleistet. Mit zunehmender Größe der Organismen war dann schnell eine Arbeitsteilung notwendig, also noch intensivere Kooperation. Weiter außen liegende Zellen spezialisierten sich auf Feindabwehr und Aufnahme von Nährstoffen, während sich weiter innen liegende Zellen mehr auf Verarbeitung der Nährstoffe und Fortpflanzung konzentrierten.

Ein Exkurs in die Tierwelt

Heute lässt sich das erfolgreiche Prinzip der Kooperation sehr gut an staatenbildenden Insekten erkennen. Beispielsweise leben Bienen und Ameisen in hochkomplexen arbeitsteiligen Sozialstrukturen und sind sogar zu sozialen Hilfeleistungen fähig, wenn sie verletzte Artgenossen in den Bau transportieren, um sie dort zu pflegen. Schwarmbildende Fische retten sich vor einem Angriff von Fressfeinden, indem sie dichte Schwärme bilden, um in deren Zentrum eine kritische Masse fortpflanzungsfähiger Individuen zu bewahren. Und von den Pinguinen wissen wir, dass der einzelne Pinguin schlechte Überlebenschancen hätte, würden ihn die Mitglieder seiner Gruppe nicht vor eisiger Kälte und Feinden schützen. Diese exemplarischen Beispiele zeigen: Kooperatives Verhalten stabilisiert Populationen und hilft der jeweiligen Art, ihre Lebensgrundlage zu sichern.

Ein ebenso bedeutsamer Mechanismus in der Evolution ist die adaptive Radiation. Sie bedeutet, dass Lebewesen sich an Umweltbedingungen anpassen können, indem sie spezielle Fähigkeiten erwerben und morphologische Merkmale ausbilden. Dadurch können Pflanzen und Tiere alle denkbaren Lebensräume bewohnen – keine Nische bleibt unbesetzt. Nischenbildung fördert Kreativität und Vielfalt und stellt für die Gesamtheit der Populationen eine Möglichkeit dar, auf Veränderungen des Nahrungsangebots und andere Bedingungen schnell und flexibel zu reagieren. Fehlt dagegen einer Art oder Gruppe diese Flexibilität, kann das schnell schicksalhaft werden. So zählen Dinosaurier zwar zu den funktions- und leistungsfähigsten Wirbeltieren aller Zeiten, aber sie konnten sich nicht schnell genug an die geänderten Umweltbedingungen anpassen und neue Nahrungsräume erschließen.

Kooperation und adaptive Radiation in Gesellschaft und Wirtschaft

Führen uns unsere heutigen Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme ebenfalls in den Abgrund? „Fakt ist, dass in weiten Teilen der Erde aggressive Wettbewerbsstrukturen vorherrschen, die zu schwerwiegenden Veränderungen in der Gesellschaft führen“, weiß Steinbeis-Unternehmer Bernhard Wolf. Marktliberale Strukturen setzen alles daran, dem Besitzer von Privateigentum maximalen Vorteil zu verschaffen. Die rasante technologische Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte ist einhergegangen mit einem Anstieg psychischer und psychosomatischer Erkrankungen. Einige Fachleute plädieren inzwischen dafür, zu einem kooperativen Wettbewerb zu finden. Bürgergesellschaften könnten im Rahmen freiwilliger Kooperationszusammenschlüsse gegenseitige Leistungen erbringen, schlägt der Politologe Johano Strasser vor. So könnten Menschen im Sinne einer adaptiven Radiation die für sie relevanten Nischen besetzen. Wie sich bei der Entwicklung der Lebewesen gezeigt hat, weisen kooperative Verhaltensmuster in Kombination mit dem Prinzip der adaptiven Radiation ein wesentlich nachhaltigeres Entwicklungspotenzial auf als konfrontativ aggressive Muster. Allerdings ist noch ein weiteres Prinzip aus der Evolution entscheidend: Nicht mehr Ressourcen zu verbrauchen als vor Ort verfügbar sind. In der Frühzeit der menschlichen Entwicklung galt das noch als gesetzt – doch mit dem Beginn der Industrialisierung und dem aufkommenden Güterverkehr begann auch die weltweite Ausbeutung der Ressourcen. Und das, obwohl uns die Sonne tagtäglich ein Vielfaches mehr an Energie liefert, als wir verbrauchen. Würden wir sie nutzen, könnten wir schnell eine Balance zwischen Ressourcenverbrauch und Ressourcenregeneration erreichen.

Alles in allem könnte eine Besinnung auf Wachstumsstrukturen, wie sie uns die Evolution gezeigt hat, Verteilungskämpfe, Kriege und Wirtschaftsmigration verhindern und schwerwiegenden gesellschaftlichen Verwerfungen vorbeugen – Kooperation und adaptive Radiation zur Vermeidung sozialer und wirtschaftlicher Konflikte. Allerdings wäre es dazu notwendig, unsere Wirtschaftssysteme auf ressourcenorientierte und nachhaltige Weise global zu steuern. Eine Utopie, von der wir noch sehr weit entfernt sind. Aber: Die Natur hat bei der Entstehung des Lebens immer neue Funktions- und Lebensmuster erzeugt, sie hat ständig neue Konzepte entwickelt und diese dann sofort getestet. „Wenn wir die wirtschaftliche Entwicklung über Nischenbildung steuern, können wir viele Probleme von vornherein vermeiden und gesunde und effiziente, sozial und wirtschaftlich erfolgreiche Strukturen aufbauen“, sagt Bernhard Wolf und appelliert: „Schlagen wir nach bei Darwin!“

Kontakt

Prof. Dr. rer. nat. habil. Bernhard Wolf (Autor)
Steinbeis-Unternehmer
Steinbeis-Transferzentrum Medizinische Elektronik und Lab on Chip-Systeme (München)
www.stw-med-chip.de

Christian Scholze (Autor)
Mitarbeiter
Steinbeis-Transferzentrum Medizinische Elektronik und Lab on Chip-Systeme (München)
www.stw-med-chip.de

 

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