Sektorenkopplung: der nächste Schritt der Energiewende

Ein ganzheitlicher Blick auf die Energiesektoren ist notwendig für ein tragfähiges Zukunftskonzept

Die Energiewende als Lösungsansatz für die Klimaproblematik begann in Deutschland schon vor mehr als 30 Jahren – das ist nicht jedem bewusst. 20 Jahre davon hat Steinbeiser Professor Dr. Zbigniew Antoni Styczynski das Thema unter anderem mit seinem ehemaligen Lehrstuhl an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg begleitet. Aktuell kehrt der Klimawandel mit Wucht zurück ins Zentrum der gesellschaftlichen und politischen Debatte – Zeit, die Sektorenkopplungsphase einzuleiten, meint Zbigniew Antoni Styczynski.

Wohlstandsindex versus Energieverbrauch pro Kopf und Jahr (PK). Datenquelle: BP 2019

 

Die Energiewende läuft in mehreren Phasen ab, die letzte sollte zu einer vollständigen Verdrängung der fossilen Brennstoffe führen. In Deutschland müssen daher Szenarien gefunden werden, wie zukünftig ein erhöhter Bedarf an Strom und chemischen Energieträgern – grüner Wasserstoff – auch durch Importe aus Ländern mit höherem Wind-und Solarpotenzial abgedeckt werden kann. Am Ende dieser Phase sollte auch der Umbau der Energieversorgung als Gesamtenergiesystem abgeschlossen sein.

Die prognostizierte Zeit für die Energiewende von rund 80 Jahren ist vergleichbar mit der Zeitperiode, die für den Aufbau der elektrischen Energieversorgung von den ersten einfachen Systemen um 1880 bis zu den entwickelten Systemen im Jahr 1960 benötigt wurde. Das macht einmal mehr die Tragweite der heutigen Anstrengungen deutlich.

In der notwendigen gesellschaftlichen Debatte ist es wichtig, dass die Energiewende als globale Herausforderung verstanden wird. Das heißt, dass alle Länder an einem Strang ziehen müssen, obwohl die Ausgangssituationen nicht unterschiedlicher sein könnten. Viele Länder haben schlicht nicht den nötigen Lebensstandard, um die Energiewende dort zu thematisieren. Der HDI (Human Development Index), ein weit verbreiteter Index zur Charakterisierung der menschlichen Entwicklung, kombiniert drei Gruppen von Indikatoren: Lebenserwartung, Bildung und Bruttoinlandsprodukt (BIP). Im Einzelnen erfasst werden die Lebenserwartung bei der Geburt, die Alphabetisierung von Erwachsenen, Einschulungsraten sowie das Pro-Kopf-BIP. Der Index wird zusammen mit einer Vielzahl von zusätzlichen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Daten in jährlichen Berichten des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen veröffentlicht.

Hoher Energieverbrauch heißt nicht Wohlstand
„Bringt man den HDI mit dem Energieverbrauchswert pro Kopf zusammen, wird der direkte Zusammenhang zwischen diesen beiden Werten sichtbar: Ein hoher Energieverbrauch ist bis etwa 100 GJ pro Kopf und Jahr mit einem hohen HDI-Wert verbunden. Der weitere Anstieg des Pro-Kopf-Energieverbrauchs führt jedoch nicht zwangsläufig zu einem Anstieg des HDI“, erläutert Zbigniew Antoni Styczynski. Beispielsweise ist der HDI (Maximalwert 1,0) für Deutschland mit 0,94 deutlich besser als der für Saudi-Arabien (0,83). Dennoch hat Saudi-Arabien im Vergleich zu Deutschland einen mehr als doppelt so hohen Pro-Kopf-Energieverbrauch. Nichts­desto­trotz lebt in den Ländern, die einen Energieverbrauch kleiner als 100 GJ pro Kopf haben, der überwiegende Anteil der Weltbevölkerung. „Daher muss vor allem die Energiewende in den Industrienationen vorangetrieben werden. Nach dem massiven Ausbau der regenerativen Energieerzeugung ist es nun an der Zeit, um die Sektorenkopplungsphase einzuleiten“, ist Zbigniew Antoni Styczynski überzeugt.

Sektorenkopplung als Erweiterung der Perspektive
Die Sektorenkopplung ist eine kurze Beschreibung dessen, was in den kommenden Jahren in der gesamten Wirtschaft geschehen muss, um sie nachhaltig und resilient zu gestalten: Sie meint die Vernetzung der unterschiedlichen Energiesektoren mit dem gemeinsamen Ziel den Einsatz fossiler Energien zu reduzieren. Nachdem sich die Energiewende als Schlagwort der deutschen Art der Energiegewinnung aus erneuerbaren Quellen etabliert hat, kann die Sektorenkopplung als eine Erweiterung und Übertragung dieser Idee auf die gesamte Energiewirtschaft verstanden werden.

Was die Erzeugung elektrischer Energie anbelangt, so steht die Machbarkeit eines Systems ausschließlich aus erneuerbaren Energien heute außer Zweifel. Es gibt bereits zahlreiche Beispiele dafür, dass die 100 %-ige Integration erneuerbarer Energien durch ein ausgeklügeltes Management der elektrischen Netze ohne Verlust der Netzstabilität und Versorgungszuverlässigkeit möglich ist. Es ist daher an der Zeit, angesichts des Ausstiegs aus der Kernenergie bis 2022 und der Entscheidung die Stromerzeugung aus Kohle bis spätestens 2035 auslaufen zu lassen, über die anderen Sektoren neben der Elektrizitätswirtschaft nachzudenken. Wie werden sie funktionieren, wenn 100 % der Energie als erneuerbarer Strom geliefert wird, mehr noch, ist das überhaupt möglich? Welche anderen Primärenergiequellen sind notwendig, um die hoch entwickelte Mobilität der Menschen oder die Industrielandschaft aufrechtzuerhalten? Diese und andere Fragen müssen systematische Studien beantworten.

Solche Studien werden seit einiger Zeit von vielen nationalen Forschungsinstituten, wie der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) oder der Deutschen Energie-Agentur, durchgeführt. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft und internationale Organisationen, wie der Conseil International des Grands Réseaux Électriques (Cigré) oder das European Network of Transmission System Operators for Electricity (ENTSO-E), zeigen mit unterschiedlichen Schwerpunkten die positiven Perspektiven eines nachhaltigen Systems der Zukunft deutlich auf. In diesen Studien werden mathematische Modellierungsmethoden eingesetzt, um die Plausibilität der Ergebnisse zu verifizieren.

Die Energiewende braucht Spezialisten
„In den letzten Jahren haben wir festgestellt, dass viele Ansätze der Energiewende schon recht anwendungsreif sind, wie die Elektromobilität, andere, wie die Wasserstoffwirtschaft, aber noch große Anstrengungen erfordern. Für diese neuen Aufgaben werden Ingenieure und andere Spezialisten benötigt, was wiederum neue Ausbildungsprofile und ganz neue Studienrichtungen erfordert“, meint Zbigniew Antoni Styczynski und lenkt damit die Aufmerksamkeit auf einen anderen Aspekt der Energiewende. Beispielsweise wurde die Ausbildung zum Thema Kraftwerke jahrelang von den Grundlagen der Kohle- und Kernkraftwerke dominiert. Heute werden diese Themen nur noch am Rande als historische Phänomene behandelt. Im Fokus der Lehre stehen die mit Wind, Photovoltaik und Biogas betriebenen Lösungen. Um diese Weiterentwicklung zu unterstützen, hat sich Zbigniew Antoni Styczynski mit seinem Steinbeis-Unternehmen Elektrische Netze und Regenerative Energiequellen (ENRE) in den letzten fünf Jahren besonders der Ausbildung von Nachwuchskräften gewidmet und mit Projektpartnern mehrere Fachbücher zur Problematik der Energiewende veröffentlicht.


Zbigniew Antoni Styczynski ist Autor mehrerer Fachbücher rund um die Energie­wende, die im Springer Verlag erschienen sind. Seine aktuelle Veröffentlichung in der Springer Verlagsreihe „Energie in Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Gesellschaft“ lautet „Sektorenkopplung – Energetisch-nachhaltige Wirtschaft der Zukunft“. Sie stellt die technischen Ansätze vor, beleuchtet die gesellschaftliche Diskussion aus der technischen Perspektive und will so ein tieferes Verständnis für das Thema bei
Studierenden, aber auch in der Gesellschaft wecken.

 

 

Kontakt

Prof. Dr. Zbigniew Antoni Styczynski (Autor)
Steinbeis-Unternehmer
Steinbeis-Beratungszentrum Elektrische Netze und Regenerative Energiequellen (ENRE) (Remseck am Neckar)

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