„Bislang vermarkten wir den deutschen Südwesten als Region statt über Zukunftsthemen“

Im Gespräch mit Dr. Christian Herzog, Geschäftsführer von Baden-Württemberg International

Der Innovationsindex 2020 bestätigte Baden-Württemberg im April einmal mehr die stärkste Innovationsfähigkeit in der EU. Das findet der gebürtige Berliner Dr. Christian Herzog, seit einem Jahr Geschäftsführer von Baden-Württemberg International (BW_i), auf seinem LinkedIn-Account „fantastisch“. Doch bei aller Begeisterung weiß der erfahrene Wirtschaftsförderer, dass, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben, noch mehr Anstrengungen notwendig sind. Die will er mit seinem Team bei BW_i nach einem gemeinsam gestalteten Zukunftsprozess nun angehen. Mit der TRANSFER hat er sich darüber unterhalten, welche Veränderungen und Herausforderungen er für die Zukunft sieht.

Herr Dr. Herzog, Standortförderung neu denken – so lautet die Mission von BW_i, was konkret ist damit gemeint, auch unter dem Stichwort Standortförderung 2.0?

Bei BW_i wollen wir neue Wege in der Standortförderung gehen, die kundenorientierte Dienstleistung und Zukunftsgestaltung als ihre Handlungsmaxime definieren. Aber bevor ich auf das Wie eingehe, möchte ich kurz das Warum erläutern. Nicht nur die Welt ist im Wandel, sondern auch Baden-Württemberg: Digitalisierung, Transformation wichtiger Branchen, starke Exportabhängigkeit, nachhaltiges Wirtschaften etc. – unser Standort steht vor großen Herausforderungen. Die Veränderungen unseres Umfeldes sind seit einigen Jahren rasant und wurden zusätzlich durch die Pandemie beschleunigt. Logisch, dass vor diesem Hintergrund auch wir bei BW_i uns ändern müssen. Im Rahmen eines Zukunftsprozesses haben wir erörtert, welche Dienstleistungen das Land und unsere Kunden von einer Organisation wie BW_i brauchen. Am Beispiel der Standortvermarktung möchte ich gerne Standortförderung 2.0 konkretisieren: Bislang vermarkten wir den deutschen Südwesten als Region, aber zielführender wäre es, ihn über Zukunftsthemen wie künstliche Intelligenz, KI, zu definieren. So sind wir gerade dabei, mit Regionen aus Kanada und den USA, der Schweiz, den Niederlanden und Frankreich eine KI-Allianz zu schmieden, mit der wir uns weltweit als die relevanten KI-Hubs positionieren wollen. Mit diesem Themenverbund werden wir extrem sichtbar und stärken zugleich unsere Kontakte und Bande ins Ausland.

Haben sich die BW_i-Kernaufgaben im Zuge des von Ihnen initiierten Zukunftsprozesses verändert?

Internationalisierung bleibt eine wichtige Säule in unserem Portfolio. Unsere Kunden können sich weiterhin darauf verlassen, dass wir sie im Rahmen von Delegationsreisen oder Messebeteiligungen in für sie interessante Auslandsmärkte bringen. Das Ansiedlungsmanagement, auch bislang eine unserer Kernaufgaben, wollen wir stärken. Als die One-Stop-Agency im Land sind wir der erste Ansprechpartner für Investoren aus dem In- und Ausland. Künftig wollen wir aber auch internationale Talente für die hiesigen Wissenschaftseinrichtungen rekrutieren. Das Thema Innovation als neuen Schwerpunkt werden wir vorantreiben. Dabei fokussieren wir uns auf Querschnittsthemen und -technologien und verknüpfen diese auf internationaler Ebene durch die Anbahnung von Kooperationen oder den Aufbau weitreichender Allianzen wie der bereits erwähnten KI-Allianz. Hier werden wir eng mit unseren Partnern wie Steinbeis oder den anderen Landesagenturen zusammenarbeiten.

Welche neuen Dienstleistungen bieten Sie jetzt Ihren Partnern und Kunden vor diesem Hintergrund an? Und welchen Einfluss hat die aktuelle Pandemie darauf?

Bei unseren Services im Bereich Internationalisierung wird – vor allem bedingt durch die Corona-Pandemie – hybrid das neue Normal werden. Künftig werden wir Delegationsreisen digital vor- und nachbereiten, und die eigentliche Reise in die Zielländer wird kürzer und effizienter werden. In diesem Zusammenhang schaffen wir gerade für unsere Kunden das Angebot, aus unserem neuen Studio in den BW_i-Räumen professionell digital zu pitchen oder Matchmaking-Gespräche zu führen. Im Messebereich haben wir zu Corona-Zeiten ein Remote-Service-Paket offeriert, damit baden-württembergische Unternehmen – mit Unterstützung unseres Büros in Nanjing – ihre Produkte auf Präsenzmessen in China ausstellen konnten. Das kam bei unseren Kunden sehr gut an, sodass wir überlegen, diese Dienstleistung weiterhin anzubieten. Und noch ein Beispiel aus der Ansiedlung: Unternehmen haben am Standort Baden-Württemberg oft das Problem, dass die Erteilung einer Arbeitserlaubnis für nicht-europäische Fachkräfte bis zu fünf Monate dauern kann – für viele eine Katastrophe. Deshalb sind wir in Gesprächen mit der Arbeitsagentur und dem Baden- Württembergischen Industrie- und Handelskammertag, wie dieser Prozess mit Unterstützung von BW_i beschleunigt werden kann.

Baden-Württemberg als Innovationsregion: Wie kann Ihrer Meinung nach die Innovationskraft des   Landes noch mehr gefordert und gefördert werden?

Wir haben eine exzellente Wissenschaftslandschaft: Das KIT in Karlsruhe und das Cyber Valley besitzen weltweiten Ruhm im Bereich KI, wir haben die Universitäten Heidelberg und Tübingen mit starkem Fokus auf Gesundheit und Medizin. Wir sind in vielen Bereichen in der Grundlagen- und Entwicklungsforschung Spitzenklasse, aber die größte Hürde bleibt – nicht nur in Baden-Württemberg, sondern in ganz Deutschland – die Transformation zur Anwendung. Was uns fehlt sind Test- und Piloträume. Warum stellte Daimler 2016 sein Modell für autonomes Fahren auf der Consumer Electronics Show in Las Vegas vor? Weil es bei uns noch keinen Testraum dafür gab. Mit vereinten Kräften aller Player am Standort – darunter Steinbeis, die seit Jahrzehnten beim Thema Wissens- und Technologietransfer erfolgreich unterwegs sind – müssen wir Baden-Württemberg zum Showcase für Innovation und Technologie machen. Auch bei der Vermarktung unserer Innovationskraft haben wir Nachholbedarf; wir sind doch sehr schwäbisch und leise unterwegs. Als gebürtiger Berliner weiß ich: Klappern gehört zum Geschäft – und plädiere für ein selbstbewussteres Auftreten in der Welt.

Welche Rolle spielt beim heutigen Globalisierungsgrad der Wissenschaft und der Wirtschaft „noch“ die Internationalisierung?

Das Thema Internationalisierung müssen wir – über 35 Jahre nach der Gründung von BW_i als Exportstiftung Baden-Württemberg – ebenfalls anders denken. Die Wissenschaft ist inzwischen in der Regel weltweit gut vernetzt, deshalb lenken wir unseren Blick auch verstärkt auf die Anwerbung von internationalen High-Potentials wie Studierende, Doktoranden und Doktorandinnen und Post-docs für die baden- württembergischen Hochschulen und Forschungsinstitutionen. Dazu gehört auch, Forscherinnen und Forscher aus dem Ausland zurückzuholen, um so die wissenschaftliche Exzellenz in Baden-Württemberg zu stärken. Was unsere Kunden aus der Wirtschaft angeht: Das Geschäft der großen Unternehmen und Hidden Champions aus dem Mittelstand ist durchweg international, aber bei zahlreichen kleinen und mittleren Unternehmen des Landes sehen wir nach wie vor einen hohen Unterstützungsbedarf beim Schritt ins Ausland. Sie planen mit der globalen Erweiterung des Absatzmarktes ihren nächsten Wachstumsschritt und greifen dabei gerne auf unsere Delegationsreisen, Kooperationsbörsen oder Messebeteiligungen zurück.

Kontakt

Dr. Christian Herzog (Interviewpartner)
Geschäftsführer
Baden-Württemberg International (Stuttgart)

215405-06