Grüner Wasserstoff: In 40 Jahren von der Vision zur Realität

Die Schlüsseltechnologie stellt einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zur Klimaneutralität dar

Fossilfrei und raus aus der Abhängigkeit vom Öl – das war die Vision für die Energieversorgung der Zukunft vor rund 40 Jahren. Namhafte Forschungsinstitute haben schon damals an dem Thema im Rahmen von Förderprogrammen des For­schungsministeriums (heute BMBF) gearbeitet. Die solare Wasserstoffwirtschaft in Deutschland ist also nicht neu. Wie lässt sich dann aber der aktuelle Hype um den „grünen“ Wasserstoff erklären und was hat sich in den letzten vier Dekaden verändert? Professor Dr.-Ing. Manfred Norbert Fisch vom Steinbeis-Innovationszentrum energieplus geht dieser Frage nach. Seine Überzeugung: Eine der Schlüsseltechnologien für das klimaneutrale Europa ist die Umwandlung des Überangebots von Strom aus erneuerbaren Energien durch Wasserelektrolyse in grünen Wasserstoff nach dem Prinzip Power-to-Gas.

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Vor 40 Jahren stand im Mittelpunkt die Suche nach alternativen Energieträgern und der Ersatz von Erdöl in der chemischen Industrie für das „Post-oil“-Zeitalter. Wasserstoff als Sekundärenergie, produziert aus Sonnen- und Windenergie, wurde als ein universelles Wundermittel für die Zukunft gesehen. Eine technische Lösung war greifbar, der Strom aus der erneuerbaren Energie aber viel zu teuer. Inzwischen hat sich zum einen die Zielsetzung geändert, es geht heute um die kostenoptimale Verringerung der anthropogenen CO2-Emissionen zur Minimierung von Klimafolgeschäden. Zum anderen ist der Strompreis aus den PV-Anlagen und Windparks dramatisch gesunken. In Deutschland wird der grüne Strom für unter 5 ct/kWh, in Südeuropa für unter 3 ct/kWh produziert.

Grüner Wasserstoff als Schlüsselelement der Energiewende

Die Ziele der Energiewende in Deutschland, 2010 durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie formuliert, und das ambitionierte Klimaziel der EU mit dem „Green Deal“ aus dem Jahr 2019 lassen sich aus Sicht des Steinbeis-Experten Manfred Norbert Fisch nur annähernd mit einem extrem beschleunigten Ausbau der Photovoltaik- und Windenergieanlagen erreichen. Die benötigte Kraftwerksleistung aus erneuerbaren Energien (EE) wird gegenüber dem heutigen Stand mit ca. 110 GW in Deutschland bis 2050 um mindestens das Fünffache wachsen. Mit diesem Faktor wachsen dann auch nicht nutzbare Stromüberschüsse, die sich aus dem fluktuierenden Angebot der EE ergeben. Daher ist grüner Wasserstoff eines der Schlüsselelemente der Energiewende: Stromüberschüsse sollten nicht wie derzeit üblich „abgeregelt“, sondern in den chemischen Energieträger Wasserstoff umgewandelt werden (Power-to-Gas). Dieser grüne Wasserstoff (H2) kann den Kohlenstoff in vielen Prozessen, zum Beispiel als Reduktionsmittel bei der Stahlherstellung, ersetzen. Aus H2 lassen sich synthetisches Methan und synthetische Kraftstoffe produzieren, zusätzlich kann es in Brennstoffzellen zur Rückverstromung genutzt werden. Daneben wird der grüne Wasserstoff in den nächsten Jahren zur Dekarbonisierung der Industrie und Mobilität benötigt. Mit rund 33 kWh/kg ist die Energiedichte im Vergleich zum Diesel rund dreimal so hoch, sodass H2 als Kraftstoff ein hohes Potenzial zum Beispiel für den Einsatz im Schwerlastverkehr hat. Für 1 kg Wasserstoff werden für die Spaltung durch die Elektrolyse 45 bis 50 kWh Strom benötigt und mit rund 16-20 Liter Leitungswasser eine nicht unerhebliche Menge an Wasser. Die dabei abzuführende Wärme, im Temperaturbereich von 60 bis 65 °C, wird in der Regel an die Umgebung abgegeben. Der Wirkungsgrad von PEM- und alkalischen Elektrolyseuren liegt bei etwa 60 %. Der entscheidende Vorteil von Wasserstoffmolekülen ist die verlustfreie Speicherung über lange Zeiträume, ganz im Gegensatz zu Elektronen in Batterien. Das spricht für die Mittel- und Langzeitspeicherung von grünem Wasserstoff, um damit unter anderem die befürchteten „Dunkelflauten“ – Zeiten, in denen wegen fehlenden Windes und Dunkelheit keine Energie in Wind- und Photovoltaikanlagen produziert werden kann – zu überbrücken.

Der Zeitpunkt zu handeln ist jetzt

Der aktuelle Hype um den grünen Wasserstoff wird durch die „Nationale Wasserstoffstrategie“ (NWS) der Bundesregierung beflügelt. Deutschland strebt mit der NWS die Weltmarktführerschaft auf dem Gebiet der Wasserstofftechnologie mit Elektrolysen, Brennstoffzellen, H2-Infrastruktur, H2-Abfüll- und Tankstationen etc. an. Ein ambitioniertes Ziel, für das es notwendig sein wird, das German Engineering zu nutzen sowie risikofreudige und innovative Unternehmen im Aufbau von Fertigungskapazitäten im Gigawatt-Bereich in Europa zu unterstützen. Bis 2030 sollen für den Markthochlauf 7 Mrd. Euro für Vorhaben in Deutschland und 2 Mrd. Euro für Beteiligungen in sonnenreicheren Ländern zur Verfügung gestellt werden. Es wäre notwendig, einen großen Teil des 750 Mrd. Euro umfassenden EU-Konjunkturprogramms in Südeuropa für den Aufbau von Industrie und Projekten im Kontext des Green Deal einzusetzen, um damit zukunftssichere Arbeitsplätze zu schaffen und grünen Strom und Wasserstoff nach Mitteleuropa zu exportieren. Wieviel von dem für 2050 geschätzten Bedarf mit rund 15 Mio. t Wasserstoff jährlich in Deutschland und Europa produziert oder aus der Ferne importiert werden wird, ist weniger entscheidend als zu erkennen, dass der Zeitpunkt zu Handeln erreicht ist. Roadmaps und Studien zu diversen Szenarien helfen nicht weiter, sie verkürzen nur die verbleibende Zeit der Umsetzung. Die notwendigen Technologien zur Produktion von grünem Wasserstoff sind alle verfügbar, sie müssen nur angewendet werden.

Ein völlig veralteter Ansatz geht der Frage nach, was der grüne im Vergleich zum konventionell hergestellten Wasserstoff kosten darf, 1,50 oder 2 Euro/kg? Diese Frage ist im Kontext des Klimaschutzplans der Bundesregierung nicht zielführend, vielmehr muss die Frage beantwortet werden, mit welchen kostenoptimalen Maßnahmen das Ziel erreicht werden kann. Trotzdem muss die Diskussion geführt werden, wo und mit welchen Technologien die großen Mengen an grünem Wasserstoff produziert werden, zu welchen Preisen er zu den Abnehmern kommt und welche Auswirkungen auf die damit produzierten Wirtschaftsgüter zu erwarten sind.

Elektrolyse: Wasserspaltung durch Strom

Die Kosten des grünen Wasserstoffs hängen in erster Linie von den Stromgestehungskosten, den Betriebszeiten des Elektrolyseurs und von den Investitionskosten der Elektrolyseanlagen ab. Grüner Wasserstoff wird in den nächsten Jahren für 3 bis 5 Euro/kg produzierbar sein. Die Anlagenkosten zur Produktion von Wasserstoff werden durch eine industrielle Fertigung im Gigawatt-Bereich um mindestens zwei Drittel auf spezifische Investitionen von unter 500 Euro/kW sinken.

„Ein großer Teil des Wasserstoffs sollte dort produziert werden, wo der Bedarf direkt gedeckt werden kann“, meint Manfred Norbert Fisch. Die Verteilung über LKW-Trailer hat ihre Grenzen, letztendlich transportiert ein 40-Tonnen-Fahrzeug einige hundert Kilogramm Wasserstoff (15-20 MWh). Die Erdgasnetze in Deutschland sind grundsätzlich geeignet, um die großen Wasserstoffmengen zu verteilen sowie von Süd- nach Mitteleuropa zu transportieren. In einer Übergangszeit bis 2050 wird es Mischnetze mit einem zweistelligen Prozentanteil an H2 geben. Parallel werden zukünftig reine Wasserstoffnetze die Industriezentren in Europa verbinden. Wie der in Nordafrika oder anderen sonnenreichen Gegenden produzierte grüne Strom, grüne Wasserstoff oder grüne Kraftstoff nach Europa kommt, ist eine spannende technisch-ökonomische Ingenieuraufgabe. Den Wasserstoff in den sonnenreichen, ariden Gebieten herzustellen, erfordert große Wassermengen, die energieintensiv überwiegend aus Meerwasser gewonnen werden. Die energieaufwendige Verflüssigung, die Verluste und die Kosten des Transports sowie die geopolitische Abhängigkeit sind darüber hinaus Herkulesaufgaben, für die Lösungen entwickelt werden müssen. „Nach meinen Berechnungen ergeben sich unter Berücksichtigung aller Aufwendungen bis zum Abnehmer in Deutschland keine nennenswerten Preisvorteile zwischen Wasserstoff aus Deutschland beziehungsweise Südeuropa und den MENA-Staaten“, so Manfred Norbert Fisch. Es bleibt die Frage des Flächenpotenzials und der Akzeptanz in der Bevölkerung zur Umsetzung der benötigten Windparks und Photovoltaik-Freiflächenanlagen. In Deutschland wäre der Ausbau der PV- und Windkraftwerksleistung auf 500 bis 550 GW kein Flächenproblem. Für PV-Anlagen sind ausreichend Dach- und Freiflächen vorhanden. 250 GW Photovoltaik würden umgerechnet lediglich 2 bis 3 % der landwirtschaftlich genutzten Areale bedecken, ohne Berücksichtigung von nutzbaren Dachflächen.

Ein weiterer Vorteil einer in Deutschland lokal eingebundenen elektrolytischen Wasserstoffproduktion ist die Möglichkeit, die aus dem Prozess entstehende Abwärme zur Versorgung von Gebäuden und Quartieren zu nutzen. Rund 30 % des eingesetzten Stroms werden in Wärme umgewandelt. Die Effizienz des Systems steigt damit deutlich, von rund 60 auf nahezu 90 %. Wenn nur die Hälfte des im Jahr 2050 benötigten grünen Wasserstoffs, also rund 7,5 Mio. t pro Jahr, in Deutschland produziert wird, entsteht eine nutzbare Abwärme von etwa 110 TWh/a. Dies entspricht in etwa dem heutigen Fernwärmeaufkommen und reicht zur Wärmeversorgung von rund 14 Mio. energetisch sanierten Wohnungen. Das Potenzial ist daher in vielerlei Hinsicht erheblich und mit vorhandenen Konzepten erschließbar.

Auf dem Weg zur klimaneutralen Stadt

Das Projekt „Klimaquartier Neue Weststadt“ im baden-württembergischen Esslingen folgt dem Ansatz der heimischen Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien, der lokalen Wasserstoffproduktion und der Abwärmenutzung zur Wärmeversorgung des Stadtteils. Der grüne Wasserstoff wird ins Erdgasnetz der Stadt eingespeist und trägt damit zur Dekarbonisierung des Energiesektors bei. Im Rahmen der Forschung wird darüber hinaus untersucht, welche weiteren direkten Verwertungspfade in die Sektoren Mobilität und Industrie in den nächsten Jahren technisch-wirtschaftlich erschlossen werden können. Das Reallabor der Energiewende auf einem innerstädtischen Areal von 12 ha wird im Juni 2021 eingeweiht. Das Quartier umfasst im Endausbau rund 500 Wohneinheiten, Büro- und Gewerbeflächen sowie den Neubau der örtlichen Hochschule. Ziel ist es, einen nahezu klimaneutralen Stadtteil zu errichten. Im Projekt wird diese Größe mit einer CO2-Emission pro Kopf und Jahr von unter einer Tonne für Wohnen und Mobilität definiert. Erreicht wird das unter anderem durch die Reduzierung des Energiebedarfs, einen hohen Grad an Solarisierung (ca. 1.500 kWp PV), die Nutzung der Abwärme aus der Wasserstofferzeugung sowie den Einsatz von importiertem Biomethan in Blockheizkraftwerken. Zentrales Element der Energieversorgung des Quartiers ist ein Wasserstoff-Elektrolyseur mit einer Leistung von 1.000 kWel. Der eingesetzte Strom kommt aus den auf den Gebäudedächern installierten PV-Anlagen sowie überwiegend aus Erzeugungsanlagen, die von außerhalb überschüssigen, erneuerbaren Strom über das öffentliche Stromnetz liefern. Mit der Abwärme aus dem Elektrolyseur wird über ein Nahwärmenetz rund die Hälfte des Wärmebedarfs der Wohn- und Gewerbeflächen und der Hochschule gedeckt. Der Jahres-Nutzungsgrad der Elektrolyse erhöht sich somit auf etwa 85 bis 90 %. Die Untersuchungen zu weiteren Vermarktungspfaden des grünen Wasserstoffs, wie die Trailer-Abfüllung oder der Bau von H2-Leitungen zu nahe gelegenen Industriestandorten, sind in der Bearbeitung.

Das fast fertiggestellte Vorhaben ist eines der sechs Leuchtturmprojekte des 6. Energieforschungsprogramms der Bundesregierung in der Förderinitiative „Solares Bauen/Energieeffiziente Stadt” und wird von 2017 bis 2022 mit etwa 12 Mio. Euro gefördert. Die im Jahr 2019 gegründete Gesellschaft Green Hydrogen Esslingen (GHE) ist der Investor, Betreiber und Vermarkter des grünen Wasserstoffs und der Abwärme aus der H2-Produktion. In Abhängigkeit von den Strompreisen (8 bis 10 ct/kWh) ergibt sich aktuell ein Wasserstoffpreis von 6 bis 7 Euro/kg. Der Probebetrieb ist bis Mai 2021 geplant, dann beginnt eine zweijährige Monitoringphase durch das Steinbeis-Innovationszentrum energieplus.


 

Die TRANSFER hat bei Prof. Dr.-Ing. Manfred Norbert Fisch nachgefragt:
Sind die großen Wassermengen bei der Wasserstoff-Herstellung kritisch? Und welche Hürden gibt es bei der Anwendung von grünem Wasserstoff?

Kontakt

Prof. Dr.-Ing. Manfred Norbert Fisch (Autor)
Steinbeis-Unternehmer
Steinbeis-Innovationszentrum energieplus (Braunschweig)

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