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Klimaneutrale Gebäude: eine machbare Herkulesaufgabe

Steinbeis-Team setzt CO2-neutrale Pilotprojekte um

Die EU-Kommission hat auf ihrem Klimagipfel 2018 im polnischen Kattowitz einen Plan für ein klimaneutrales Europa vorgelegt, der 2020 im „Green Deal“ beschlossen wurde: Bis 2050 soll eine Netto-Nullbilanz klimaschädlicher Treibhausgasemissionen erreicht werden. Damit ist eine langfristige Planungssicherheit für die europäische Gesellschaft und insbesondere für die Wirtschaft gegeben. Mit dem Ziel einer CO2-emissionsarmen Zukunft in allen Sektoren ist ein notwendiger Transformationsprozess verbunden, der jährliche Investitionen im hohen dreistelligen Milliardenbereich erforderlich macht. Der Umfang scheint erheblich, Klimafolgeschäden durch ausbleibendes Handeln dürften aber deutlich höher ausfallen, meint Steinbeis-Experte Professor Dr.-Ing. Manfred Norbert Fisch.

Die Bundesregierung hat verbindliche Obergrenzen für die zulässigen CO2-Emissionen aus den Sektoren Energiewirtschaft, Industrie, Gebäude, Verkehr und Landwirtschaft festgelegt. Danach müssen bis 2030 die Treibhausgasemissionen um mindestens 55 % gegenüber 1990 gesenkt werden. Im Gebäudebereich sollen bis dahin zwei Drittel der klimaschädlichen Emissionen vermieden und bis 2050 ein nahezu klimaneutraler Gebäudebestand erreicht werden.

Drei Alternativen eines 2016 gebauten dreigeschossigen Wohngebäudes und seine kumulierten CO2-Emissionen, inklusive Nutzerstrom. Gebaut im Standard KfW 55 und ohne PV-Anlage steigen die Emissionen. Wird das Gebäude als Effizienzhaus Plus mit einer PV-Anlage (70 Wp /m2 Wfl.) errichtet, sinken die absoluten CO2-Emissionen bis 2050 lediglich um 30 %. Die Krümmung der Kurven ist einerseits durch den „grüner“ werdenden Netzstrom und andererseits durch die reduzierten CO2-Gutschriften des eingespeisten PV-Stroms bedingt. Durch einen Hybridbau mit einem 85 %igen Holzanteil, erreicht der Effizienzhaus Plus-Standard mit PV-Anlage und einer Batterie in der Größenordnung von einer kWh pro kWp annähernd die Klimaneutralität bis 2050.

 

Auf Deutschland bezogen lagen die Emissionen 2014 bei rund 900 Mio. t CO2, das entspricht etwa 11 t CO2 pro Einwohner und Jahr. Dem Gebäudebereich werden daraus nach dem Quellprinzip etwa 120 Mio. t CO2 direkt zugeschrieben. Indirekte CO2-Emissionen durch den Material- und Ressourceneinsatz bei Bau- oder Sanierungsprozessen sowie die importierte Endenergie für beispielsweise den Nutzerstrom werden der Energiewirtschaft und Industrie zugeordnet.

CO2-Verursacher: Neubau und Sanierung

Berechnungen des Teams um Manfred Norbert Fisch am Steinbeis-Innovationszentrum energieplus zeigen, dass jährlich ein erheblicher Anteil an indirekten Emissionen, auch „graue Emissionen“ genannt, durch den Neubau und die Sanierung nach dem Verursacherprinzip emittiert werden. Pro Jahr wächst der Gebäudesektor um eine Fläche von etwa 80 Mio. Quadratmeter und verursacht damit rund 60 Mio. t CO2 im Jahr. Rund 50 Mio. Quadratmeter werden pro Jahr saniert. Der Ressourceneinsatz und die Abgabe klimaschädlicher Emissionen ist mit circa 10 Mio. t CO2  jährlich ebenfalls signifikant, aber deutlich geringer als im Neubaubereich.

Nach dem Klimaschutzplan der Bundesregierung sollen die lokalen Netto-Emissionen der Gebäude bis 2030 um 50 Mio. t CO2 jährlich, das bedeutet um 42 % gegenüber 2014 sinken. Durch die in der nächsten Dekade dazu kommenden Neubauten und die damit bedingten zusätzlichen CO2-Emissionen müsste daher der heutige Bestand um mindestens 55 % dekarbonisiert werden. Die bis 2030/2050 entstehenden Neubauten erhöhen zusätzlich den Einspardruck auf den Gebäudebestand, sind aber absolut gesehen von geringem Einfluss auf das CO2-Reduktionsziel. Die Verschärfung der gesetzlich geltenden Anforderungen an die Energie-Performance (Gebäudeenergiegesetz 2020) von Neubauten ist im Kontext der Klimaschutzziele bis 2050 unbedeutend. Die grauen CO2-Emissionen werden 2030 durch die Dekarbonisierung der Energiewirtschaft und Industrie sowie ein möglicherweise verringertes Neubauvolumen sinken.

„Der Gebäudesektor steht vor einer Herkulesaufgabe mit zahlreichen Schn­itt­stellen zu den energierelevanten Sektoren. Auf der Grundlage unserer Empfeh­lungen halte ich die angestrebte Klimaneutralität aber für machbar“, ist Steinbeis-Experte Manfred Norbert Fisch überzeugt. Der Gebäudesektor hat einen Wärmeverbrauch für private Haushalte, Gewerbe/Handel/Dienstleistungen und Industrie von rund 670 TWh/a für Raumwärme und etwa 130 TWh/a für Warmwasser. Zusammengenommen entspricht das einem Anteil von rund 32 % des gesamten Endenergie-Wärmeverbrauchs von etwa 2.500 TWh/a. Der regenerativ erzeugte Anteil lag 2020 bei lediglich 14,5 %. Der erneuerbare Beitrag zum Bruttoinlands-Stromverbrauch ist mit 42 % bereits deutlich besser ausgebaut.

Zur Beschleunigung der Wärmewende und der Dekarbonisierung im Sektor Gebäude muss die energetische Sanierungsrate auf mehr als 2 % pro Jahr verdoppelt, die fossilen Brennstoffe Öl und Gas im Markt durch elektrische Wärmepumpen verdrängt, die Ausbaudynamik der Wind- und PV-Anlagen gesteigert sowie mit dem Aufbau einer grünen Fernwärme begonnen werden.

Das CO2-Label: ein Key-Performance-Index für Gebäude

Das Team am Steinbeis-Innovationszentrum energieplus schlägt bereits seit einigen Jahren die Einführung einer CO2-Bewertungsmethode für Gebäude vor. Mit einer Differenzierung in CO2-A-Emissionen, verursacht durch Neubau oder Sanierung, und CO2-B-Emissionen durch den Gebäudebetrieb (einschließlich des Anteils für die Nutzung) werden kalkulierbare Grundlagen unter einer ganzheitlichen Betrachtung geschaffen.

Der A-Wert wird zum Zeitpunkt des Baus oder der Sanierung auf Basis der zugrunde gelegten Massen und den zugehörigen CO2-Kennwerten der eingesetzten Materialien aus Ökodatenbanken berechnet. Bei einem mehrgeschossigen Wohngebäude in Massivbau liegt dieser Wert zwischen 700 und 1.000 kg CO2/m2 Nettoraumfläche (NRF). Bei der Sanierung sind es unter 200 kg CO2/m2 NRF.

Der B-Wert wird aus der jährlichen Netto-Endenergiebilanz nach Gebäudeenergiegesetz während der Nutzungsphase ermittelt. Der Nutzerstrom wird hinzugerechnet. CO2 (B) wird durch die fortschreitende Dekarbonisierung der leitungsgebundenen Energieträger wie Strom, Fernwärme oder Gas und der zunehmenden Solarisierung des Gebäudebestands über die Zeitachse abnehmen. Der B-Wert liegt bei Bestandswohngebäuden, die nach 1995 errichtet wurden, bei 40 bis 60 kg CO2 /(m2a). Für künftige Neubauten und Sanierungen sollte ein Zielwert unter 20 kg CO2 /(m2a) erreicht werden. Durch die fortschreitende Dekarbonisierung des Netzstroms kann bis 2030 ein CO2-B-Wert von unter 10 kg/(m2a) erreicht werden. Das Steinbeis-Team empfiehlt, die Daten für ein CO2-B-Label regelmäßig, spätestens alle fünf Jahre, auf Basis der aktuellen CO2-Kennwerte der fossilen und erneuerbaren Energien für den Teil der gemessenen importierten und exportierten Endenergieströme zu aktualisieren und in einer zentralen Datenbank zusammenzuführen. Dadurch entstünde ein verlässliches CO2-Emissionskataster für den Gebäudebestand, was daneben auch für eine steuerliche Bewertung genutzt werden könnte.

Überzeugende klimaneutrale Pilotprojekte

Das Konzept „Gebäude als Kraftwerk“ setzte das Steinbeis-Team 2009 am Einfamilienhaus „Berghalde“ im baden-württembergischen Leonberg um [1]. Der Erfolg sprach für sich: Ab 2012 wurden im Rahmen des Förderschwerpunktes „Zukunft Bau“ über 40 Effizienzhaus Plus-Wohngebäude auf Basis dieses Konzepts realisiert. Das ambitionierte Ziel bestand darin, eine positive Jahres­endenergie- und CO2-Bilanz zu erreichen und die dafür erforderliche Bau- und Gebäudetechnik zu erproben.

Die Erfahrungen aus Planung, Bau und Betrieb der ersten Modellprojekte sind in den Planungsempfehlungen Effizienzhaus Plus des Steinbeis-Teams zusammengestellt [2]. „Unsere Gebäudeprojekte folgen dem ganzheitlichen Ansatz‚ Wirtschaftliche Optimierung während des Lebenszyklus durch Reduzierung des Energieverbrauchs und effiziente Nutzung erneuerbarer Energie‘“, fasst Manfred Norbert Fisch die Arbeit am Steinbeis-Innovationszentrum energieplus zusammen. Dies geht über den Ansatz „Efficiency first“ hinaus und verfolgt grundsätzlich technologieoffene Systemlösungen.

Mit Erfolg am Werk war das Steinbeis-Team auch beim Aktiv-Stadthaus in Frankfurt a. M., dem ersten klimaneutralen Mehrfamilienhaus, ebenfalls gefördert im Förderschwerpunkt „Zukunft Bau“. Das achtgeschossige Gebäude mit 74 Wohnungen auf einer Fläche von 6.634 m2 NRF wurde 2015 fertiggestellt. Die beiden ersten Betriebsjahre waren von einem technisch- sowie sozialwissenschaftlichen Monitoring begleitet [3]. Das Aktiv-Stadthaus ist als „Nur-Strom“-Gebäude errichtet. Die Wärme für Raumheizung und Warmwasser stellt eine elektrische Wärmepumpe (120 kWth) bereit. Ein Wärmetauscher mit rund 100 m2 Fläche im Abwasserkanal der Speicherstraße dient als Wärmequelle. Zur Minimierung des Haushaltsstroms sind die Wohnungen vom Vermieter mit Haushaltsgeräten der höchsten Effizienzklasse ausgestattet.

Stadt-Aktivhaus Frankfurt a. M., Effizienzhaus-Standard (HHS Planer + Architekten, Kassel)

 

Den Strombedarf decken fassaden- (120 kWp) und dachintegrierte (250 kWp) Photovoltaikmodule. Ein 250 kWh-Stromspeicher erhöht den solaren Eigenversorgungsgrad. Durch die Batterie werden in Verbindung mit einem Lademanagement die Lastspitzen bei der Stromeinspeisung reduziert und ein netzdienlicher Betrieb erreicht. Das Monitoring bestätigte die in der Planungsphase berechnete CO2-Bilanz (Wert B). Die durch den Stromverbrauch der Wärmepumpe zur Deckung des Bedarfs für Raumheizung und Warmwasserbereitung verursachten CO2-Emissionen liegen bei rund einem Drittel. Dominant mit rund 55 % ist der Nutzerstrom. Der jährliche solare Deckungsanteil und der Eigenversorgungsgrad lagen im Mittel bei rund 47 %. Der gemessene Nutzerstromverbrauch inklusive des Anteils für die mechanische Lüftung liegt mit etwa 18 kWh/(m²a) rund 20 % unter den in der Planung zugrunde gelegten Bedarfswerten (Effizienzhaus Plus-Standard). In den ersten zwei Betriebsjahren ergab sich eine ausgeglichene jährliche CO2-Bilanz. Dem Stromverbrauch aus Gebäudebetrieb und Nutzerstrom von im Mittel rund 0,9 t CO2/(Pers. a) standen annähernd die gleichen CO2-Gutschriften aus der Einspeisung des überschüssigen Solarstroms gegenüber. Das zeigt überzeugend: Klimaneutralität ist unter realen Nutzerbedingungen auch für ein achtgeschossiges Mehrfamilienhaus möglich.

Energie- und Technikkonzept des „Nur-Strom“-Hauses (EGSplan, Stuttgart)

 

Die Sanierung des Gebäudebestands ist ein entscheidender Faktor bei der Erreichung der Klimaschutzziele. Für die Siedlung Riederwald in Frankfurt a. M. aus den 1960er-Jahren konzipierte das Steinbeis-Team unter der Vorgabe „nahezu klimaneutral“ eine ganzheitliche Sanierung. Die Gebäudehüllen erfüllen nach der Sanierung den Standard KfW 55. Die Wärme liefern elektrische Wärmepumpen, die als Wärmequelle senkrechte Erdsonden in Kombination mit Außenluftwärmetauschern nutzen. Die ost-/westorientierten Dachflächen sind mit der maximalen Anzahl an PV-Modulen belegt. Die CO2-Emissionen, einschließlich des Anteils für Nutzerstrom, konnten um 60 % reduziert werden und lagen zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme 2016 bei circa 17 kg CO2 /(m2a). Durch die weiter voranschreitende Dekarbonisierung des Netzstroms wird der CO2-B-Wert auf unter 10 kg CO2 /(m2a) sinken.

Was diese Projekte zeigen: Klimaneu­trale Gebäude und Quartiere sind mit den heute bekannten Technologien machbar, trotzdem sind weitere F&E-Anstrengungen in den nächsten Jahren erforderlich. Klimaneutral bedeutet nicht kostenneutral, der „Green Deal“ wird viel Geld und Arbeit erfordern. Umso wichtiger ist es, den Mut aufzubringen und die Akzeptanz in der Gesellschaft zu steigern, um das Ziel der Klimaneutralität umzusetzen.


Empfehlungen für die Immobilienwirtschaft

Die Stakeholder der Immobilienwirtschaft müssen aktiv werden und mittelfristige Strategien für einen klimaneutralen Bestand entwickeln. Der „Green Deal“ gibt ihnen dafür die notwendige Planungssicherheit. Aus den Erfahrungen der umgesetzten Modellprojekte „Klimaneutrale Gebäude“ leitet das Steinbeis-Innovationszentrum energieplus folgende Empfehlungen für Gebäude ab:


Empfehlungen für die Energiewirtschaft und Politik


 

Im Interview gibt Prof. Dr.-Ing. Manfred Norbert Fisch Einblicke in zwei seiner Schwerpunktthemen:
Klimaneutrale Gebäude und grüner Wasserstoff.