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Jede Veränderung beginnt mit einer Vision…

Ein Exposé über die Zukunft der Ökosysteme wie auch die Ökosysteme der Zukunft

Die künstliche Trennung der Menschen von den Ökosystemen ist der Grund für die sich beständig verschlimmernde Biodiversitätskrise und die Degradation so vieler Lebensräume auf unserem Planeten. Das Jahr 2021 ist das erste Jahr der von den Vereinten Nationen ausgerufenen „Decade on Ecosystem Restoration“, in der die entscheidenden Impulse für eine Trendwende gegen diese Entwicklung gesetzt werden sollen. Für Wildnisse mag die Bewahrung beziehungsweise die Wiederherstellung das wichtigste Ziel sein. Für unsere Kulturlandschaft, in der wir wohnen und wirtschaften, muss es aber um eine neue Einstellung der Menschen zur „Natur“ gehen. Die große Herausforderung wird für uns Menschen darin liegen, uns selber als mit diesen Ökosystemen unmittelbar verbundene und von ihnen abhängige Lebewesen zu verstehen. Steinbeis-Experte Professor Dr. Michael Weiß stellt seine Vision vor, wie dies gelingen kann.

Böden als Ökosysteme spielen in der ökologischen Forschung heute eine Schlüsselrolle. Durch eine rasante Entwicklung insbesondere der Hochdurchsatzse­­qu­enzierung kleinster DNA-Mengen bekommen wir immer höher aufgelöste Einblicke in die organismischen Spektren in Böden. Eine hohe Biodiversität, in der Pilze und Bakterien dominieren und Tiere und Pflanzen kleinere Anteile belegen, ist ein Merkmal gesunder Böden. Unsere Methoden sind allerdings noch weit davon entfernt, die Komplexität zu verstehen, in der die verschiedenen Bodenorganismen miteinander interagieren. Klar ist aber, dass die im letzten Jahrhundert in den Industrieländern entwickelten Konzepte zur Ernährung und zum Schutz unserer Kulturpflanzen diese Komplexität weitgehend unberücksichtigt ließen.

Pilze und Lebensmittel­abfälle fördern nachhaltigen Pflanzenbau

Industriell unter hohem Energieaufwand hergestellte Salze beziehungsweise ihre Lösungen (Kunstdünger) und immer effektivere organische Pestizide stehen bis heute im Zentrum der industriellen Landwirtschaft. Der organische Bestandteil der Böden – der Humus – ging dabei stetig weiter zurück. Durch den Verlust ihrer Lebensgrundlagen starb ein großer Teil der Bodenorganismen (das Edaphon) ab, die Böden verdichten und erodieren, neu eingebrachter Dünger wird immer schlechter vom Boden absorbiert und gelangt in Bäche, Flüsse und in das Grundwasser.

Das Steinbeis-Innovationszentrum Organismische Mykologie und Mikrobiologie beschäftigt sich seit Längerem damit, biologische Grundlagenforschung in Methoden für einen nachhaltigen Pflanzenbau zu übersetzen. Im Mittelpunkt stehen dabei derzeit Pilzstämme, die Pflanzenwurzeln besiedeln und durch diese Interaktion systemisch einerseits wachstumsfördernd wirken, den Pflanzen andererseits aber auch eine größere Resilienz gegen verschiedene Arten von Stress (etwa gegen Trockenheit, pilzliche, bakterielle oder tierische Schadorganismen) vermitteln. In einem zweiten Schwerpunkt entwickelt der Steinbeis-Experte pflanzliche Dünger aus bisher nicht effektiv genutzten Stoffströmen aus der Lebensmittelherstellung und aus Lebensmittelabfällen, die in der Lage sind, den Dauerhumusgehalt und die Wasserspeicherfähigkeit der Böden zu erhöhen. Ohne den Umweg über die Kompostierung, die den Verlust der Hälfte der in den Rohstoffen enthaltenen Energie bedeutet, werden über diese innovativen Dünger die Nahrungsketten des Edaphons unmittelbar im Wurzelraum bedient, wovon dann die Kulturpflanzen profitieren. Aber das ist nur ein Schritt von vielen, um die Ökosysteme nachhaltig zu gestalten.

So leben wir 2050

Michael Weiß verantwortet das Steinbeis-Innovationszentrum Organismische Mykologie und Mikrobiologie. Um darzustellen, wie sich die Ökosysteme unserer Kulturlandschaft in den kommenden Jahrzehnten zum Besseren entwickeln können, versetzt er sich und uns in das Jahr 2050 und blickt von dort auf die Veränderungen der letzten 30 Jahre zurück:

2050: Unsere Städte sind eingebettet in eine reiche und vielfältige Kulturlandschaft. Die weitere Ausräumung der Landschaft und den gewaltigen Flächenverbrauch einer industriellen Landwirtschaft, wie sie bis in die 2020er Jahre weithin geschah, konnten wir stoppen. Das war nicht zuletzt deshalb möglich, weil wir fast keine Tiere mehr zur Fleischproduktion halten. 2020 wurden noch 60 % der landwirtschaftlichen Flächen für Anbau von Futter für Tiere verwendet, die nur zwei Prozent der von uns Menschen benötigten Kalorien lieferten. Dafür waren aber immer mehr Waldflächen gerodet worden. Heute, 2050, nutzen wir weltweit nur noch das fruchtbarste Ackerland, um unsere Lebensmittel anzubauen. So ist es uns gelungen, unsere Kulturlandschaft wieder zu hoch diversen Lebensräumen zu machen. Dazu haben wir die Schlaggrößen konsequent begrenzt. Jedes Feld ist umsäumt mit Hecken oder Gehölzen. Allein schon diese Änderung hat dazu beigetragen, die Bodenerosion zu vermindern, die noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts zum Verlust von weltweit jährlich über 10 Millionen Hektar fruchtbaren Landes geführt hatte. Viele Felder sind von Niederwaldkulturen umsäumt, dadurch produzieren wir den industriellen Bedarf für Holzwerkstoffe. Solche Säume wechseln sich ab mit artenreichen Biodiversitätsstreifen krautiger Pflanzen. Durch diese Vielfalt der Feldsäume ist gewährleistet, dass bestäubende Insekten geeignete Lebensräume finden.

Der weitgehende Wegfall der Fleischproduktion hat zu einem höheren Bedarf an pflanzlichen Proteinen für unsere Ernährung geführt. Getreide wird nun meist in Co-Kultur mit Hülsenfrüchten angebaut. Ein großer Vorteil liegt darin, dass die Hülsenfrüchte durch ihre Wurzelsymbiosen mit stickstofffixierenden Bakterien die Nährstoffversorgung des Getreides mit übernehmen.

Entsprechend den regionalen und lokalen Gegebenheiten hat sich weltweit eine Vielfalt von Agroforstsystemen entwickelt, in denen auf den Feldern sowohl Feldfrüchte als auch Gehölze angebaut werden. Bäume und Sträucher bieten den Feldern Windschutz und sorgen, in einer optimalen Dichte gepflanzt, durch Beschattung dafür, dass der Hitzestress für die Feldkulturen verringert wird. Das Laub der Bäume trägt zu einer natürlichen Humusdüngung der Flächen bei. Die Flächenerosion wird stark vermindert. Die Gesamtproduktivität solcher Systeme ist durchweg größer als bei den gehölzfreien Anbauformen, die noch am Anfang des 21. Jahrhunderts weltweit überwogen.

Energiegewinnung 2050

Die Energie zur Betreibung unserer 2050 vollständig elektrifizierten Landmaschinen wird durch verschiedene Varianten von feldbegleitender Agrophotovoltaik erzeugt. Die eingesetzten Module sind grundsätzlich transparent, sodass unter den Modulen für Hitzestress empfindlichere Kulturen besonders gut gedeihen. Die zahlreichen ökologischen Nischen, die die heutige Kulturlandschaft prägen, haben zu einem Stopp des Insektensterbens und zur kontinuierlichen Steigerung der Biodiversität in unseren Kulturlandschaften geführt. Nach dem Verbot der Biomasseverbrennung zur Energiegewinnung in den 2020er-Jahren und mit einem stetig wachsenden Anteil an feldbegleitender Nutzholzproduktion und Agroforstsystemen hat sich der früher auf unseren Wäldern liegende Nutzungsdruck entscheidend verringert. Heute werden grundsätzlich nur noch Waldränder – bei minimierten Bodenschäden durch den Verzicht auf den Einsatz von Harvestern und Großfahrzeugen – forstlich genutzt. Im Inneren der Waldgebiete wird das Straßen- und Wegenetz durch regelmäßige Baumpflegemaßnahmen gesichert, sodass Wälder nach wie vor zu den beliebtesten Erholungsorten gehören. Abseits der Wege wird auf Eingriffe weitgehend verzichtet, die Wälder sind auf einem guten Weg, sich zu modernen Urwäldern zu entwickeln. Totholz wird grundsätzlich nicht mehr entfernt, sondern verbleibt im Wald. Dadurch konnten Wälder auch in Mitteleuropa wieder zu effektiven Moderatoren des regionalen Klimas und hoch biodiversen Ökosystemen werden, die durch den nun stetig zunehmenden Humusanteil immer größere Mengen an CO2 im Boden sequestrieren.

Die Fixierung von CO2 als Kohlenstoff im Boden war nach dem vollständigen Verzicht auf die Verbrennung von fossilem Kohlenstoff und Biomasse das wirkungsvollste Werkzeug, mit dem es uns gelungen ist, Europa klimaneutral werden zu lassen und so das Ziel des EU-Aktionsplans „Green Deal“ vom Beginn der 2020er-Jahre zu erfüllen. Dieser Erfolg gibt uns Hoffnung, dass es schließlich gelingen wird, die Klimaerwärmung in diesem Jahrhundert auf weniger als 1,5 ˚C zu begrenzen. Ein entscheidender Beitrag war dafür die gebietsweite Wiedervernässung der im 20. Jahrhundert für die Landwirtschaft und zum Torfabbau trockengelegten Feuchtgebiete. Die Rückkehr der Moore, die nun wieder wachsende Mengen an Kohlenstoff speichern, war nach dem Wegfall des riesigen Flächenbedarfs für die Fleischindustrie möglich geworden. Da auch der Gülleeintrag auf die Grünflächen aufhörte, geht die Nitratbelastung des Grundwassers stetig zurück. Grünland besteht heute zum größten Teil aus artenreichen Wiesen, die nun nicht mehr zur Gewinnung von Viehfutter, sondern zur Produktion von Pflanzenfasern ein- bis zweimal pro Jahr geschnitten werden. Diese Pflanzenfasern spielen zusammen mit dem Holz aus der Landschaftspflege und den flurbegleitenden Niederwäldern eine große Rolle als Rohstoff sowohl für die Produktion von Verpackungsmaterial als auch für Bioraffinerien. Schaumstoffe, die noch vor wenigen Jahrzehnten aus synthetischen Kunststoffen bestanden, werden heute meist aus Pilzmyzelien auf Pflanzenfaserbasis hergestellt.

Unsere Städte im Jahr 2050

Das Erscheinungsbild unserer Städte hat sich in den vergangenen 30 Jahren radikal gewandelt. Nach einer konsequenten Begrenzung des automobilen Individualverkehrs konnten viele früher als Parkplätze und Straßen verwendete Flächen entsiegelt und begrünt werden. Die Fassaden- und Dachbegrünung ist Standard geworden. Die Zahl der Stadtbäume hat sich stark erhöht. Deren Kultur folgt meist dem Anfang des Jahrhunderts in Stockholm entwickelten Modell, in dem die Verwendung von Pflanzenkohle eine große Rolle spielt. Pflanzenkohle entsteht aus Biomasse durch Pyrolyse, einem Prozess, bei dem unter Ausschluss von Sauerstoff bei Temperaturen von 600 bis 800 °C die Biomasse erhitzt und so vollständig verkohlt wird. Die dabei entstehenden Synthesegase werden abgezogen und in einer Brennkammer schadstoffarm verbrannt, was die für den Prozess benötigte Wärme und Strom erzeugt. Überschüssige Wärme fließt in lokale Wärmenetze. Pflanzenkohle hat durch ihre große innere Porenoberfläche eine hohe Wasser- und Nährstoffhaltekapazität. Dadurch liefert sie wertvolle Pflanzensubstrate. Durch ihre hohe Halbwertszeit wird der so festgelegte Kohlenstoff auf lange Sicht klimawirksam der Atmosphäre entzogen. Immer mehr innerstädtischer Boden wird durch dieses Substrat ersetzt, das ideal in der Lage ist, Niederschlagswasser zu speichern.

Ein ausgesprochenes Erfolgsmodell wurde die Anfang des Jahrhunderts gegründete Initiative „Essbare Stadt“, der sich inzwischen fast jede Stadt angeschlossen hat. Viele der Stadtbäume sind nun Obstbäume, zahlreiche städtische Grünflächen sind mit Beerensträuchern und Gemüse bepflanzt, das allen Bewohnern zur Nutzung freisteht. Durch gemeinschaftliches Urban Gardening beziehungsweise Urban Farming wird heute ein beträchtlicher Anteil der Nahrung der Stadtbevölkerung innerhalb der Städte produziert – ein weiterer Faktor, der die Lebensqualität in den Städten erhöht und die Menschen mit ihren Lebensgrundlagen verbunden hat.

Drei Faktoren für den Weg in die Zukunft

In seiner Vision des Jahres 2050 fasst Michael Weiß zusammen: „In der Rückschau wurde eine effektive Wende zum Besseren durch drei entscheidende Faktoren möglich, von denen zwei ein Produkt der Globalisierung waren. Erstens schaffte es Anfang der 2020er-Jahre eine hoch motivierte Generation junger Menschen, die ihre eigene Zukunft akut bedroht sahen, sich zu einer weltumspannenden dynamischen Bewegung zu organisieren und immer größere Teile der älteren Bevölkerung hinter sich zu versammeln und so den nötigen politischen Druck zur Umsetzung zu erzeugen. Zweitens gewannen in dieser weltweiten Bewegung zunehmend indigene Menschen an Gewicht, die wertvolle Erfahrungen eines alternativen Umgangs mit natürlichen Ressourcen einbrachten. Und schließlich wurde das damals neu aufgekommene demokratische Element der Bürgerräte auf unterschiedlichen politischen Ebenen zunehmend erfolgreich darin, bestehende Polarisierungen und Spaltungen in der Gesellschaft aufzulösen und zu heilen“. Das zentrale Resultat aus diesen Prozessen? Die breite Einsicht, dass menschliches Leben langfristig nur innerhalb funktionierender Ökosysteme möglich ist. Der heute noch viel verwendete Begriff „Naturschutz“ wird verschiedenen Konzepten der Bewahrung und der aktiven Herstellung biodiverser Ökosysteme weichen. 2050 bewahren wir die überlebenden alten Wildnisse unseres Planeten in vielen Schutzgebieten und geben höchste Priorität dem Gestalten und Behüten der Ökosysteme, in denen wir selber leben.